Mehr Kapitalismusskeptiker

Im Osten haben weniger Menschen Vertrauen ins herrschende System als im Westen

Die Überschriften der Agenturmeldungen sagen vor allem etwas über deren Verfasser aus. Die Ostdeutschen beurteilten »die Demokratie deutlich skeptischer« als die Westdeutschen, lautete die Zusammenfassung der am Mittwoch veröffentlichten Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage.

Das Institut für Demoskopie Allensbach hat aber keineswegs gefragt: Finden Sie Demokratie schlecht? Sondern: »Glauben Sie, dass die Demokratie, die wir in Deutschland haben, die beste Staatsform ist?« Das bejahten im Osten 42 Prozent, im Westen dagegen 77 Prozent der Teilnehmer. 23 Prozent im Osten und zehn Prozent im Westen glauben, dass es eine »überlegene Alternative« gäbe. Die restlichen 35 Prozent der Teilnehmer Ost waren, vor die Entscheidung zwischen diesen beiden Polen gestellt, »unschlüssig oder wollten sich nicht äußern«, schreibt Allensbach-Chefin Renate Köcher in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, die die Untersuchung in Auftrag gegeben hatte. Für sie ist damit klar, dass es im Osten nur eine Minderheit von »Anhängern dieser demokratischen Staatsform« gibt.

Weiter wurde gefragt: »Gibt es ein Wirtschaftssystem, das besser als die Marktwirtschaft ist?« Das verneinten im Osten 30, im Westen dagegen 48 Prozent. Das heißt: Eine große Mehrheit im Osten und immerhin gut die Hälfte der Befragten im Westen hält den Status quo nicht unbedingt für der Weisheit letzten Schluss. Klar mit »Ja« beantworteten die Frage aber nur neun Prozent im Westen und 14 Prozent im Osten. Unschlüssig waren im Westen 43 und im Osten 56 Prozent.

Weitere Ergebnisse: Zwei Drittel im Westen, aber nur die Hälfte im Osten vertrauen darauf, dass Grundrechte wie die Meinungsfreiheit wirksam geschützt, die Gerichte unabhängig sind und die Gleichheit aller vor dem Gesetz gesichert ist. Und: Nur 26 Prozent der Westdeutschen, aber 52 Prozent der Ostdeutschen sind davon überzeugt, dass die Herkunft aus »neuen« oder »alten« Bundesländern eine der »wichtigsten Trennlinien in Deutschland« ist.

Die Parteipräferenzen wurden ebenfalls abgefragt. Hier ergab sich das bekannte Bild: Im Osten gibt es erheblich weniger Zustimmung für CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, dafür mehr für die Linkspartei einerseits und die AfD andererseits. Letztere kann derzeit in den »neuen« Ländern mit 21 Prozent und im Westen mit 9 Prozent der Stimmen rechnen. Die LINKE kommt derzeit im Osten auf 17 und im Westen auf 7 Prozent, was einer deutlichen Aufwärtsbewegung auf dem Territorium der alten Bundesrepublik und einem Abstieg im Osten entspricht, wo sie zeitweilig stabil 20 Prozent und mehr Wähler erreicht hatte.

Für Renate Köcher zeigen die Ergebnisse, dass sich viele Ostdeutsche immer noch fremd im »eigenen Haus« fühlen. Dass sie ganz real in Politik und Wirtschaft extrem unterrepräsentiert sind, scheint ihr entgangen zu sein. In den Aufsichtsräten und Vorständen der großen Unternehmen ist der Anteil Ostdeutscher noch geringer als der weiblicher Mitglieder. Auch 30 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik haben Westdeutsche im Osten mehr als 90 Prozent der Leitungsposten in Justiz und Verwaltung inne. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtete am Mittwoch unter Berufung auf eine eigene Umfrage, dass sämtliche Präsidenten der Oberlandes- und Oberverwaltungsgerichte, der Landesarbeits- und Landessozialgerichte sowie der Finanzgerichte in den neuen Bundesländern Westjuristen sind. Angesichts dessen erscheinen die Zustimmungswerte zum herrschenden politischen und wirtschaftlichen System im Osten geradezu traumhaft.

So mancher dürfte sich durch die ermittelten Werte erneut in seinen Vorurteilen über immer noch von »Diktaturerfahrung« geprägte Ostdeutsche bestätigt sehen. Anfälligkeit für rechte Parolen wird da schnell zur Spätfolge der »Unfreiheit« in der DDR erklärt, wo eine Auseinandersetzung mit den ökonomischen Verwerfungen der letzten Jahrzehnte, mit Konkurrenzbeseitigung durch die Treuhandanstalt und realer Benachteiligung bei Löhnen, Gehältern und Renten angebracht wäre.

Abgesehen davon wird der Begriff »Demokratie« als Synonym für bürgerlichen Parlamentarismus gebraucht, obwohl Abgeordnete und Minister mehrheitlich vor allem im Interesse der ökonomisch Mächtigen und nicht der Mehrheit der Wähler agieren. Zugleich wird von »Marktwirtschaft«, also gleichberechtigtem Wettbewerb, gesprochen, wo real die entscheidenden Märkte von einigen wenigen Monopolisten beherrscht werden.

Auch vor dem Hintergrund, dass gerade in den letzten Jahren Bürgerrechte durch Gesetzesänderungen immer weiter eingeschränkt werden, erscheint die Zahl derer, die die aktuellen Bedingungen für die bestmöglichen halten, sehr hoch.

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