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Widersprüchliche Lebenswege

Konrad H. Jarausch berichtet über das Jahrhundert unserer Mütter und Väter

  • Günter Benser
  • Lesedauer: 5 Min.

Kollektivbiografien nehmen in jüngerer Zeit einen festen Platz in der Historiografie ein. Sie erfassen ausgewählte Kohorten von Personen und analysieren bestimmten Mustern entsprechende Lebensläufe, Erinnerungen sowie Erfahrungen und begegnen somit den Einseitigkeiten einer vornehmlich auf die politische oder sozialökonomische Entwicklung orientierten Geschichtsbetrachtung.

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Konrad H. Jarausch: Zerrissene Leben. Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter.
WGB/Theiss, 455 S., geb., 29,95 €.

Mit der hier zu besprechenden Publikation hat sich Konrad Jarausch jener Generation zugewandt, die in den 20er Jahren, also in der Weimarer Republik, geboren, in der NS-Zeit herangewachsen, Krieg und Nachkrieg, Kalten Krieg, deutsche Teilung, deutsche Zweistaatlichkeit sowie deren Überwindung erlebt hat. Der Titel deutet an, wie widersprüchlich die Lebenswege der Angehörigen dieser Generation verlaufen sind, welch wechselnden Lebensumständen sie ausgesetzt waren und wie unterschiedlich sich demzufolge ihre Schicksale gestalteten.

Das Buch wird eröffnet mit den Einflüssen der Großeltern und der Eltern auf die heranwachsende Generation und geht anschließend der Frage nach, wie sich in den analysierten Lebenserinnerungen die bereits bewusst erlebte Endzeit der Weimarer Republik spiegelt. Dem folgt ein Kapitel über das Leben im Faschismus (ein vom Autor als Wesensbestimmung des NS-Regimes gemiedener Begriff) der Vorkriegszeit. Die Kriegsjahre finden wir in zwei getrennten Kapiteln behandelt: »Die Gewalt der Männer« und die »Mühen der Frauen«. Diese genderspezifische Betrachtungsweise hat viel für sich, denn sie belegt nicht nur die Leiden der Frauen, sondern auch das aktive Engagement vieler weiblicher Zeitzeugen für das Hitlerregime und dessen verbrecherischen Krieg.

Der faschistischen Politik zur Ausrottung der Juden und der gnadenlosen Verfolgung von Antifaschisten ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem auch der Widerstand gegen das Hitlerregime behandelt wird - allerdings ohne die Bewegung und das Nationalkomitee Freies Deutschland zu erwähnen. Die Schilderung der nazistischen Gräueltaten macht auch den kundigen Leser zutiefst betroffen. Zu Recht warnt der Autor davor, das Leid der Opfer mit dem von Tätern zu vermengen.

Einprägsam vorgestellt finden wir die letzten Kriegswochen und die unmittelbare Nachkriegszeit mit den jeweiligen Überlebensstrategien. Mit dem Übergang in mehr oder weniger »normale« Verhältnisse treten Berichte über Berufskarrieren, Familiengründungen, Reiseerlebnisse und steigenden materiellen Wohlstand in den Vordergrund. In den Überlieferungen geht es für den deutschen Westen ziemlich unpolitisch zu. Die Entscheidungssituationen des Kalten Krieges, der deutschen Teilung und der deutschen Zweistaatlichkeit scheinen nur blass auf. Hier kann der Autor weit weniger auf Zeugnisse seiner Protagonisten zurückgreifen, weshalb er weitere Quellen zurate zieht und verstärkt eigene Wertungen beisteuert.

Das die DDR behandelnde Kapitel trägt die Überschrift »Kommunistische Enttäuschung«, was darauf hindeutet, dass vieles vom Ende her betrachtet wird. So stellt sich der Verdacht ein, dass manche Memoirenschreiber mehr Distanz zur DDR bekunden, als ihnen seinerzeit tatsächlich zu eigen war. Gebrechen und Schattenseiten der DDR werden hier im Wesentlichen zutreffend benannt. Aber auch Verfechter des sozialistischen Experimentes DDR kommen zu Wort.

Abschließend räumt Jarausch hier ein: »Weil sie nicht willens sind, ihr Leben als gescheitert zu betrachten, erinnern sich viele Ostdeutsche daher ›nicht nur an die autoritäre SED-Diktatur‹, sondern stimmen im Allgemeinen auch den ›sozialen und gesellschaftlichen Maßnahmen der DDR‹ zu. Lediglich für die Opfer war ›die Öffnung der Mauer und die Wiedervereinigung ein wunderbares und nie erwartetes Geschenk‹.« Wenngleich sich kaum jemand die DDR zurückwünsche, vermissten viele Ostdeutsche »die Vertrautheit der DDR und ärgern sich über Angriffe in den westlichen Medien auf die SED-Diktatur (zutreffender wäre wohl auf die DDR-Gesellschaft, G. B.), die sie als gefühlskalt und respektlos gegenüber ihren eigenen Lebenswegen empfinden.«

Jarausch hat autobiografische Zeugnisse von 80 Personen ausgewertet. Dem Autor darf bestätigt werden, dass er - soweit dies überhaupt möglich ist - mit der Auswahl seiner Zeitzeugen ein in Bezug auf die geschlechtermäßige, territoriale und soziale Zuordnung, auf Religionszugehörigkeit sowie politische Verortung repräsentatives Ensemble erfasst hat - mit der Einschränkung, dass Niederschriften von Lebenserinnerungen einen gewissen sozialen Status und einen gehobenen Bildungsgrad voraussetzen.

Wer weite Strecken der in diesem Buche vorgestellten Geschichtsperioden selbst erlebt hat und für sich zu verarbeiten bemüht war, dem wird in diesem Buche nichts Spektakuläres, Umwerfendes begegnen, wohl aber ein lebenspralles Bild. Wer indes diese Zeiten nur als lehrplangemäß vermittelte Historie und als vorgestanzte Narrative kennt, dem erschließt sich ein anschauliches Mosaik von Erlebnissen, Erfahrungen, Motivationen, Überzeugungen, Handlungsweisen und Selbsterkenntnissen jener Leute, die den Verhältnissen nicht nur ausgeliefert waren, sondern diese mit ihrem Tun oder Lassen auch mehr oder minder geprägt haben.

Der Autor hat eine von intensiver Quellenarbeit zeugende, Respekt gebietende Publikation vorgelegt. In dieser spiegelt sich Geschichte im persönlichen Erleben und subjektiven Wahrnehmen ganz unmittelbar. Den in seinen Schlussbemerkungen getroffenen Verallgemeinerungen ist weitgehend zuzustimmen. Dennoch Vorsicht! Mit Zitaten aus Zeitzeugenberichten lässt sich alles belegen und alles widerlegen. Denn sie unterliegen einer doppelten Selektion. Die Memoirenschreiber haben Entscheidungen getroffen, was sie von ihren Erlebnissen, Erkenntnissen und Gefühlen für erwähnenswert halten und wie sie darüber berichten. Historiker wissen, dass sich nicht selten Erinnerungen als unpräzise oder gar trügerisch erweisen, dass sie das Gesamtgeschehen prägende historische Vorgänge und Zusammenhänge oft ausblenden. Gleichwohl sind auch die verinnerlichte Rückbesinnung und die gefühlte Realität geschichtswirksam.

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