Doppelt verloren

Netanjahus Wahlsieg verstärkt die sozialen Spannungen in Israel.

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Wahlsieg Benjamin Netanjahus von dieser Woche ist ein trügerischer. Seine geplante Koalition wird aus vielen kleinen Parteien und Bündnissen bestehen, die nur in der Summe eine Mehrheit der Bevölkerung darstellen. Untereinander sind sie höchst unterschiedlich aufgestellt. Es ist ein Kompromiss zu einem besonders hohen Preis. Einig sind sie sich nur bei Premier Benjamin Netanjahus aggressiver Außenpolitik, die in der versprochenen Annexion von Teilen des Westjordanlandes vergangene Woche ihren Höhepunkt fand. Doch abseits des Nahostkonflikts kämpft die israelische Bevölkerung mit schwerwiegenden internen Problemen.

Israel und die Ultraorthodoxen

Die Haredim

Als ultraorthodoxes oder haredisches Judentum beschreibt man sozialkonservative Strömungen, in denen die Erfüllung der religiösen Pflichten und ein lebenslanges Studium der Religion im Vordergrund stehen. Sie sind bis heute weitestgehend von der allgemeinen Wehrpflicht befreit. Ihre Begründung dafür ist, dass das Militär, wie auch viele sonstige »weltliche« Dinge, sie davon abhalten würde, ein auf Gott gerichtetes Leben zu führen. Die meisten leben deshalb in einer Parallelgesellschaft – abgeschottet in ihren eigenen Stadtvierteln.

Die Haredim sind aber keinesfalls als homogen zu betrachten. Sie unterscheiden sich in Bezug auf Herkunft, Beziehung zum Staat Israel und religiöse Eigenheiten. Manche Haredim lehnen zum Beispiel den modernen Staat Israel ab, da ein jüdischer Staat in ihren Augen nur durch den Messias geschaffen werden kann, und engagieren sich für die palästinensische Sache. Andere beteiligen sich an der Siedlungspolitik und manche leben als politische Quietisten. Heute leben etwa eine Million Haredim in Israel.

Eines davon ist der Konflikt zwischen der säkularen Bevölkerung und den Ultraorthodoxen, den Haredim. Unter Netanjahus Koalitionspartnern befinden sich mächtige Interessenvertreter der ultraorthodoxen Bevölkerung, die einst als kleine Gemeinde in Israel ihr Zuhause fand, nun aber stetig an Einfluss gewinnt. Parteien wie die Shas, die bei diesen Wahlen drittstärkste Fraktion wurde, und die Allianz Vereinigtes Thora-Judentum sichern Netanjahu die Macht; dafür wird er wohl ihre Privilegien aufrechterhalten, die im Land für sozialen Zündstoff sorgen.

2014 gab es in Israel eine der größten Protestwellen, die das Land jemals gesehen hatte. Über 300 000 Ultraorthodoxe gingen auf die Straße, um gegen eine höchst umstrittene Gesetzesänderung zu protestieren: die Wehrpflicht für die Haredim. Bislang genießen sie in Israel einen rechtlichen Sonderstatus, denn 1948 bat eine kleine Gemeinde von etwa 400 Personen den Staatsgründer David Ben Gurion um einen Gefallen: Alle Frauen und Männer, die sich dem Studium in der Jeschiwa, einer religiösen Hochschule, widmeten, sollten von der Wehrpflicht ausgenommen werden. Diese schreibt vor, dass alle Männer und Frauen für drei respektive zwei Jahre zum Militär müssen. Damals argumentierten die Haredim, dass ein jüdischer Staat den Strömungen Platz gewähren müsse, die dessen religiösen Charakter aufrechterhalten.

Privileg für viele, Problem für viele andere

Doch was als Gefallen für eine winzige Minderheit begann, mündete in ein Privileg für viele: Die Haredim sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Sie heiraten im Schnitt viel früher. Jede haredische Frau gebärt im Schnitt sieben Kinder. Derzeit stellen die Haredim 11 Prozent der Gesamtbevölkerung, 58 Prozent von ihnen sind unter 19 Jahre alt. Schätzungen zufolge werden sie bis 2050 die Mehrheit der Bevölkerung stellen.

Vielen säkularen Juden bereitet der wachsende Einfluss der haredischen Bevölkerung große Sorge. Die arbeitende und wehrpflichtige Bevölkerung Israels, die letztendlich den Preis für Netanjahus Außenpolitik und die immensen Militärausgaben mit steigenden Lebenshaltungskosten bezahlen muss, sieht sich als die Leidtragende einer Favorisierungspolitik.

In den Stadtvierteln der Haredim gibt es etwa subventionierte Lebensmittel zu kaufen, und auch religiöse Bildungseinrichtungen erhalten Zuschüsse. Nur etwa 50 Prozent der Männer sind erwerbstätig, bei den Frauen sind es dagegen etwa 70 Prozent. Doch beide verdienen nur rund die Hälfte des israelischen Durchschnitts. Umgerechnet die Hälfte der Haredim lebt unter der Armutsgrenze. Durch die rechtlichen Sonderregelungen genießen sie zwar Privilegien, leben aber keinesfalls im Reichtum.

Dafür steigt ihr Einfluss auf die Politik: Seit 2016 ist Arje Machluf Deri aus der ultraorthodoxen Partei Shas Innenminister. Obwohl im vergangenen Jahrzehnt immer mehr Haredim einen offiziellen Schulabschluss erhielten und erwerbstätig wurden, stagniert diese Zahl zurzeit. Das liegt an den ultraorthodoxen Parteien, die jeden Versuch abschmettern, sie in die Gesellschaft zu integrieren.

Korruption in Palästina

Auch in den palästinensischen Gebieten kämpft die Bevölkerung mit schwerwiegenden Problemen, die nicht direkt mit dem Nahostkonflikt zusammenhängen. Selbstverständlich ist die Politik Israels in der Westbank und im Gazastreifen omnipräsent, weitere fünf Jahre unter Netanjahu werden das voraussichtlich noch verstärken. Doch viele Menschen sehen darin nicht den Hauptgrund für ihr Leid: Im Jahr 2017 gab es in den palästinensischen Gebieten eine Umfrage. Dabei sollte die Bevölkerung angeben, welche Probleme sie im Alltag am meisten betreffen - der Konflikt mit Israel landete auf dem dritten Platz. Am häufigsten genannt wurden die schweren ökonomischen Bedingungen durch Inflation und Arbeitslosigkeit, am zweithäufigsten die Korruption. Dies verdeutlicht den absoluten Unmut der Bevölkerung darüber, dass die eigene Regierung sich trotz der misslichen Lage der Palästinenser bereichert.

In der Westbank wie im Gazastreifen baut die Führungsriege prunkvolle Paläste und zahlt sich selbst unverschämt hohe Gehälter. Ein Beispiel ist die hohe Zahl an palästinensischen Offizieren. Im Jahr 2016 zahlte die palästinensische Autonomiebehörde alleine an Gehältern für circa 5000 Offiziere 59,14 Millionen Euro. Auf einen Offizier kommen in Palästina zwei Soldaten. In Israel beträgt das Verhältnis eins zu neun.

Für die immensen Geldsummen sorgen vor allem die arabischen Golfstaaten. So ist Katar für seine großzügigen Spenden an die Hamas bekannt, seit 2012 flossen über eine Milliarde US-Dollar in den Gazastreifen. Die Emire benutzen den Befreiungskampf, um Werbung für ihre eigene Sache zu machen. Die Regierungen in den palästinensischen Gebieten haben also zynischerweise kein Interesse daran, den Konflikt zu beenden, denn dies sichert ihnen den Luxus.

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