Zwischen Zigaretten und Essiggurken

Einen Einblick in das Leben strenggläubiger Juden in Jerusalem ermöglicht die Serie »Shtisel«

  • Robert Stark
  • Lesedauer: 5 Min.

Zwei Damen, beide weit über 80 Jahre alt, mit bedeckten Häuptern und langen, geblümten Kleidern, sitzen auf einer Parkbank in Jerusalem und füttern Tauben, im Hintergrund wehen israelische Fahnen. Eine der beiden will sich ihren Platz warmsitzen, sich vorbereiten: Sie wartet auf die Flugschau der israelischen Luftwaffe und das große Feuerwerk am israelischen Unabhängigkeitstag (»Jom haAtzma’ut«). In fließendem Jiddisch wird ein hitziger Dialog geführt, denn die andere Frau, die Witwe eines strenggläubigen Rabbiners, erklärt, warum »gottesfürchtige« Juden (Haredim) bei diesen weltlichen Feierlichkeiten keine Freude empfinden sollten: Ihr verstorbener Mann habe nicht viel vom jüdischen Staat gehalten, ihm zufolge wäre das freudvolle Betrachten der »Flugschau der Zionisten« genau das gleiche wie das Entzünden einer Zigarette an einer brennenden Thora-Rolle.

Eine Unterhaltung aus Dutzenden von Dialogen aus der israelischen Produktion »Shtisel«, die komplett in Jiddisch geführt werden. In den zwei Staffeln bzw. 24 Folgen, die bisher produziert wurden, wird ungefähr ein Viertel der Dialoge auf Jiddisch geführt, es kommen noch einige wenige auf Arabisch oder Englisch dazu. Dass erstmals eine so große, erfolgreiche Produktion modern-jiddische Dialoge in die europäischen Wohnzimmer bringt, ist der authentischen Genauigkeit geschuldet, mit der diese Serie gemacht wurde. Sie zieht den Zuschauenden in eine Welt, in der vor jedem Schluck und jedem Bissen ein Dankesgebet gesprochen wird, die Kippa nicht einmal beim Schlafengehen abgelegt wird und - anstatt Radio - über eine spezielle Telefonleitung die favorisierte Thora-Diskussionssendung gehört wird. In der Familie Shtisel (wie auch in den real existierenden Gemeinden) sprechen fast alle Charaktere, die älter als 50 sind, lieber Jiddisch, wenn sie unter sich sind, und Hebräisch nur, wenn mit Außenstehenden kommuniziert wird.

Der Inhalt der Serie ist schnell erzählt: Der 27-jährige Akiva wohnt mit seinem Vater, dem Lehrer Schulem Shtisel, im Jerusalemer Stadtteil Geula zusammen, die Mutter ist vor kurzem verstorben. Die Geschwister wohnen in unmittelbarer Nähe. Akivas Schwester Giti hat fünf Kinder, mit denen ihr Ehemann sie alleinlässt. Akiva soll endlich eine Braut finden, ist aber zu verträumt und interessiert sich mehr für das Zeichnen seiner Umgebung. Sein abweichendes Verhalten und seine Wunderlichkeit sorgen für Konflikte.

Bei der Produktion der Serie, die im Sommer 2013 Premiere in Israel hatte und die nun, mit Untertiteln, einem größeren Publikum zugänglich ist, haben die beiden Produzenten, Yehonatan Indursky und Ori Elon, viel Aufwand um die korrekte Verwendung des Jiddischen betrieben. Indursky wuchs selbst in einer strenggläubigen Familie auf und studierte zunächst in einer Yeshiva, einer jüdischen Thora- und Talmudhochschule, bevor er an eine israelische Filmhochschule ging. Während der Dreharbeiten wurden Linguisten konsultiert, Hebräisch sprechende Schauspieler mussten ihr Jiddisch verbessern. Die Sprachmischung macht auch einen Reiz der Serie aus: Während im Altenheim fast vergessene jiddische Lieder aus der Ukraine gesungen werden und in der Yeshiva aramäische Textstellen intoniert und interpretiert werden, wird mit dem Kioskverkäufer auf Hebräisch gehandelt - jeder Aspekt des Lebens der Shtisels und jede soziale Situation erfordert eine andere Sprache.

Aber nicht nur die Sprachwechsel ziehen den Zuschauer in das Innenleben der streng religiösen Community, in der es nicht einmal Internet gibt. Das Essen auf dem heimischen Küchentisch ist meist karg, aber natürlich koscher. Meist gibt es eine kleine Eierspeise, das immer selbe Weißbrot, ein paar Scheiben Tomaten und Gurken, am Schabbat Eintopf oder Suppe, und im lokalen Bistro den auch von Heinrich Heine heiß geliebten »Kugel«, eine Art Auflauf, dazu als Beilage immer Essiggurken. So gut wie alle männlichen Hauptcharaktere rauchen fast ununterbrochen, selbstverständlich aber nicht am Schabbat.

Die Unbedingtheit des ärmlichen Familienlebens in dieser Gemeinde im Stadtteil Geula, westlich vom berühmten Me’a She’arim, ist einnehmend und erschreckend zugleich. Es gibt kaum ein Entkommen aus den strengen Regelungen, keine plötzliche Romanze, kein Ausbrechen aus dieser Welt.

Nach der Betrachtung einiger Folgen dieser Serie, die vollkommen anders als die gewohnten funktioniert, sind die Sehgewohnheiten des Zuschauers auf die Probe gestellt: Wie kann eine von einer streng religiösen jüdischen Familie handelnde Serie, die ohne Liebeleien, Actionszenen, Katastrophen oder dramatische Musik auskommt, einen so in den Bann ziehen? Es ist das Erdrückende des Alltags: die Strenge, mit der Gebote befolgt werden, die vermeintliche Stärke, welche Religion und Familie den Charakteren zu verleihen scheinen.

Man hat den Eindruck, hinter Vorhänge zu schauen, die sich sonst nie dem Fremden zur Beobachtung öffnen. Die Charaktere sind liebevoll gezeichnet, und am Ende soll beim Zuschauer die Erkenntnis reifen: Es gibt einen wahrhaftigen, menschlichen Kern, und es gibt Probleme, die uns alle auf diesem Planeten umtreiben, so extrem verschieden unsere Leben auch sein mögen

Wenn in nicht-jüdischen Medien über die ultraorthodoxen Gemeinden berichtet wird, dann meist nur negativ und mit einer Prise Exotismus: eine riesige Menge von Kaftanen, Brillen und schwarzen Hüten, gesichtslose schreiende Figuren, mal protestierend gegen ein Jerusalemer Parkhaus, das angeblich die Schabbatruhe stört, mal gegen die Einführung der Wehrpflicht für die Söhne. Der Jerusalemer Stadtteil Me’a She’arim dient oft als Blaupause und vermeintliche Touristenattraktion. Gaffend und kopfschüttelnd wundert man sich über diese Gruppe von Menschen.

Die Serie »Shtisel« bringt eindimensionale Vorstellungen über die Haredim ins Wanken und lässt den Zuschauer nachdenklich zurück. Sie zieht einen tief hinein in Bräuche und Gewohnheiten, in Gerüche, Lieder und Töne, in Diskussionen, in die Sorgen und Probleme dieser Community, dass es kein Schwarz-Weiß mehr geben kann - auch wenn alle Männer nur diese Farben tragen.

»Shtisel«, bisher 2 Staffeln á 12 Folgen, ca. 45 Minuten pro Folge. Netflix. Hebräisch/Jiddisch mit Untertiteln.

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