Auf dem Weg zum Agrarstaat

Die wirtschaftliche Westorientierung der Ukraine beschleunigt die Deindustrialisierung

  • Felix Jaitner
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit dem Amtsantritt Wolodymyr Selenskyjs sind in der Ukraine große Hoffnungen verbunden. »Unsere erste Aufgabe ist eine Waffenruhe im Donbass«, sagte der 41-Jährige in seiner Antrittsrede im Parlament in Kiew und nährte damit nach fünf Jahren Krieg Hoffnungen auf einen neuen Anlauf in den Friedensverhandlungen. In der Wirtschaftspolitik steht der neue Präsident jedoch für den seit 2015 eingeschlagenen Kurs der Westintegration seines Landes. Im Wahlkampf bekannte sich Selenskyj zur vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA) mit der EU, die unter seinem Amtsvorgänger Petro Poroschenko verabschiedet wurde. Seitdem wächst der Handel zwischen der EU und der Ukraine kontinuierlich, allein um zehn Prozent im ersten Quartal 2019. Dagegen ging nach Angaben der ukrainischen Zollbehörde der Russlandhandel im selben Zeitraum um elf Prozent zurück.

Vor allem Polen kann von der Westorientierung der ukrainischen Volkswirtschaft profitieren. Im ersten Quartal 2019 löste das Land Russland als den wichtigsten Handelspartner der Ukraine ab. Mittlerweile entfallen 38 Prozent des Außenhandels auf die EU.

Die Westorientierung der Ukraine hat weitreichende Folgen: Die sogenannte Reprimarisierung des Außenhandels. Darunter wird ein Prozess verstanden, in dem die Bedeutung von Agrargütern am Export zu Lasten von Industrieprodukten steigt. Nach Angaben der Welthandelsorganisation WTO ist der Wert landwirtschaftlicher Güter von 2010 bis 2017 jährlich um neun Prozent gestiegen, der nicht-landwirtschaftlicher Güter dagegen um sieben Prozent gefallen. In diesem Jahr erwartet das ukrainische Landwirtschaftsministerium eine Steigerung der Getreideausfuhren auf über 50 Millionen Tonnen, wodurch das Land noch vor Russland zum weltweit größten Getreideexporteur aufsteigen würde.

Allgemein boomt der Landwirtschaftssektor in der Ukraine. Allein von Januar bis März 2019 nahmen die Agrarexporte in die EU um 24,4 Prozent zu, wie die Landwirtschaftsministerin Olga Trofimzewa mitteilte. Exportiert werden vor allem Sonnenblumenöl, Mais und Weizen. Auch in anderen Ländern wächst die Nachfrage nach Agrarerzeugnissen aus der Ukraine. Als großer Getreideabnehmer wurde Ägypten in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Handelspartner.

Doch die ressourcenbasierte Wachstumsstrategie birgt viele Probleme. Vor allem in der fruchtbaren Schwarzerde-Region im Süden drängen einheimische Oligarchen und internationale Agrarkonzerne auf den Markt und vertreiben lokale Bauern. Eine weitere Folge der Ausrichtung auf den Agrarexport ist die fortschreitende Deindustrialisierung des Landes. Noch im Jahr 2000 entfielen nach Angaben des staatlichen Statistikamtes 53 Prozent der ukrainischen Gesamtexporte auf den stark industrialisierten Osten, auf die stärker landwirtschaftlich geprägten West- und Zentralukraine dagegen nur 7,4 beziehungsweise zwölf Prozent. Bis 2014, vor dem Beginn des Konfliktes, ging die Bedeutung des Ostens an den Gesamtexporten auf 42,4 Prozent zurück, während auf den Westen mittlerweile neun und auf die Zentralukraine 16,4 Prozent entfielen.

Der Bedeutungsverlust des Ostens wird durch die Ausrichtung auf die EU weiter beschleunigt. Die ukrainische Industrie ist eng mit dem postsowjetischen Raum, speziell Russland und Belarus, verbunden. In dieser Region existieren noch transnationale Lieferketten und Produktionsstrukturen, die besonders in der Rüstungsindustrie, der Luft- und Raumfahrt und im Maschinenbau international konkurrenzfähig sind. Die russische Regierung verfolgte im Rahmen der Eurasischen Integration den Versuch, die produktive Struktur dieser Länder zu stärken und einen Re-Industrialisierungsprozess einzuleiten. Dies erklärt auch die Kritik des Kremls an dem EU-Assoziierungsabkommen mit Kiew. Mit dem Konflikt in der Ostukraine ist jedoch nicht nur der Beitritt zur Eurasischen Union vom Tisch, sondern auch eine Modernisierung der Industrie in der Region. Durch die kürzlich erlassenen Embargos der Russischen Föderation auf Öl- und Kohleexporte dürfte sich der Handel beider Länder sogar noch weiter verringern.

In der Folge werden die Entwicklungsunterschiede im Land größer. Der Großraum Kiew gewinnt immer mehr Bedeutung an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und koppelt sich zunehmend vom Rest des Landes ab. Hier ist in den vergangenen Jahren eine Dienstleistungs- und IT-Industrie entstanden, die vor allem für westeuropäische Firmen Zuliefererdienste übernimmt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.