Sozialmieter wollen in Landeshand

527 Wohnungen in Berlin-Kreuzberg könnten an renditeorientierte Investoren gehen / Verhandlungen laufen weiter

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.

»Warum müssen wir immer so viel Unglück haben?«, fragt Karin H., die ihren ganzen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Sie steht vor ihrem Wohnblock, einem 1976 fertiggestellten Sozialwohnungsensemble im Kreuzberger Teil der Friedrichstraße. 527 Wohnungen füllen das außerdem durch Hedemann-, Puttkamer- und Wilhelmstraße begrenzten Ensemble. Bis Donnerstag sah es noch so aus, als würde die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gewobag den Block kaufen. »Gestern um elf Uhr habe ich eine SMS bekommen, dass die Gewobag aus dem Spiel sein soll«, sagt der Friedrichshain-Kreuzberger Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne).

24 Stunden später, am Freitagvormittag, steht Karin H. auf dem Bürgersteig der Hedemannstraße und Tränen kullern ihr über die Wangen. Seit 1976 wohnt sie mit ihrem 83-jährigen Ehemann in dem Block. 89 Quadratmeter, Dachterrasse, 1000 Euro pro Monat. »Heizen können wir kaum im Winter, das wäre viel zu teuer«, erklärt sie. »Unsere Wohnung ist sicher ein Kandidat für die Umwandlung in Eigentum«, sagt sie. Das Ehepaar musste vor vielen Jahren schon sein Geschäft in Zehlendorf aufgeben, ohne einen Nachfolger suchen zu dürfen und eine Ablöse zu erhalten. »Mein Mann hatte schon zwei Herzanfälle und ein fünf Zentimeter großes Aneurysma«, sagt Karin H. Es ist schon jetzt alles zu viel für sie, aber nun auch noch die Wohnung verlieren? Ihr Mann würde das nicht überleben, ist sie überzeugt. »Das ist die erste Demo meines Lebens«, sagt die Kreuzbergerin. Einige Dutzend Demonstranten sind trotz der kurzen Frist gekommen.

»Spekulanten weltweit, schaut auf diese Stadt: Wer hier kauft, kauft Protest«, erklärt Cindy Lautenbach unter dem Jubel der Anwesenden. Sie gehört zur Hausgemeinschaft Krossener Straße 36 in Friedrichshain. Ihr Haus soll an die von einer Liechtensteiner Stiftung kontrollierte Aramid GmbH aus München gehen. Die Frist für die Ausübung des Vorkaufsrechts durch den Bezirk endet am 10. Juni.

Es könnte letztlich von der neuen Mietergenossenschaft »Diese eG« gekauft werden, die sich am Donnerstag konstituieren wird. Die Genossenschaft, die auf ein Konzept von Werner Landwehr, dem Leiter der Berliner Filiale der gemeinwohlorientierten GLS-Bank zurückgeht, könnte die Antwort auf Immobilienpreise sein, zu denen landeseigene Wohnungsunternehmen selbst mit dem zehnprozentigen Zuschuss des Finanzsenators nicht mehr kaufen können. 500 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche muss ein Großteil der Mieter dafür selbst mitbringen, was offenbar gelingt. Zehn Prozent Zuschuss ist Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) offenbar bereit zu geben, wie Baustadtrat Schmidt am vergangenen Dienstag erklärte. Dazu kommt noch die Genossenschaftsförderung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, für die im Gegenzug Belegungsbindungen als Sozialwohnungen gewährt werden müssen. Für ein Haus soll das Vorkaufsrecht von der »Diese eG« bereits wahrgenommen worden sein, für mindestens ein Dutzend Liegenschaften in Neukölln, Friedrichshain und Kreuzberg könnte diese Lösung in Frage kommen.

Für die 527 Sozialwohnungen an der Friedrichstraße sind zumindest alle Optionen wieder offen. »Vertreter der Fonds-Gesellschaft haben mir gerade mitgeteilt, dass ein Verkauf an die Gewobag wieder möglich ist. Dies war das Ergebnis der heutigen Verhandlungen«, twittert Florian Schmidt knappe zwei Stunden nach der Demonstration. Bereits am Donnerstag hatte er damit gedroht, sämtliche juristischen Hebel in Bewegung zu setzen, um den Weiterverkauf an Investoren zumindest jahrelang in der Schwebe zu halten. »Die Anteilseigner wären sehr viel besser beraten, jetzt zu einem möglicherweise etwas niedrigerem Preis an die Gewobag zu verkaufen«, so Schmidt am Freitag. Es bleibt eine Zitterpartie für die rund 1500 Mieter des Blocks.

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