Kein Verlass auf Polizeiakten

Eine vorläufige Bilanz der Strafprozesse.

  • Henning von Stoltzenberg
  • Lesedauer: 3 Min.

Der politische Druck zur Verfolgung und Delegitimierung der Proteste gegen den G20-Gipfel ist auch nach zwei Jahren noch stark. Im ersten Prozess um die Geschehnisse auf der Elbchaussee liefert die Staatsanwaltschaft Hamburg unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Musterbeispiel politischer Prozessführung. Mitte Juni scheiterte sie bereits zum zweiten Mal mit einem Befangenheitsantrag gegen die zuständige Kammer des Landgerichts Hamburg. In der Anklage versucht die Staatsanwaltschaft, ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) zu gewalttätigen Fußballhooligans auf politische Aktionen auszuweiten. Das bloße Mitlaufen in einer gewalttätigen Gruppe soll unabhängig von der eigenen Beteiligung an Gewalttaten als psychische Beihilfe verurteilt werden. Eine Übertragung auf politische Demonstrationen schloss der BGH in seinem Urteil vom Mai 2017 jedoch explizit aus.

Nicht zum ersten Mal versucht die Justiz in Hamburg, diese Rechtsauffassung gegen G20-Gegner*innen durchzusetzen. Im ersten Anlauf scheiterte dies im sogenannten Rondenbarg-Verfahren gegen den jungen Fabio V. aus Italien. Der Prozess ist vor über einem Jahr geplatzt. Ob und wann das Verfahren wieder aufgerollt wird, ist derzeit unklar. Es ist damit zu rechnen, dass in diesem und anderen Fällen das Urteil im laufenden Elbchaussee-Verfahren abgewartet werden soll.

Allerdings ließen sich die Vorwürfe gegen die fünf Beschuldigten im Elbchaussee-Verfahren kaum halten. Die Ermittlungsarbeit der Polizei war bestenfalls schlampig. Nachdem mehrere geladene Zeug*innen die ihnen in Polizeivermerken in den Mund gelegten Aussagen bestritten oder als »Quatsch« bezeichneten, kam die Kammer zu dem Schluss, auf »das geschriebene Wort« in den Polizeiakten sei »kein Verlass«. Die mehrmonatige Arbeit der Soko »Schwarzer Block« scheint wohl auch darin bestanden zu haben, sich Aussagen auszudenken, die zu ihrer Sicht des Geschehens passten. Vermeintliche Ermittlungsergebnisse entpuppten sich vor Gericht als Arbeitshypothesen, die die Soko-Beamt*innen aus der Lektüre des Buchs »Autonome in Bewegung« oder Konstrukten des Verfassungsschutzes formten. Das Gericht sah sich veranlasst, die Ermittlungen neu aufzurollen und deutlich mehr Zeug*innen zu laden als geplant. Der Prozess wird voraussichtlich bis mindestens Herbst 2019 andauern.

Auch in anderen G20-Verfahren erwiesen sich die Polizeiaussagen als mangelhaft oder falsch. Mehrfach wurden Angeklagte freigesprochen, da das Gericht sich nicht auf die lückenhaften Aussagen der vor Gericht verkleidet auftretenden zivilen Tatbeobachter*innen der Polizei stützen wollte, die sich ständig auf ihre eingeschränkte Aussagegenehmigung beriefen. Zudem sorgte neues oder erstmals kritisch ausgewertetes Videomaterial für die Entlastung der Angeklagten. Die Vorwürfe erwiesen sich vielfach als frei erfunden. Insgesamt endete bislang jeder zehnte G20-Prozess mit einem Freispruch. Das ist fast fünfmal mehr als der Bundesdurchschnitt aller Gerichtsverfahren. Die Quote wäre vermutlich noch höher ausgefallen, hätten sich nicht einige Angeklagte vor dem Hintergrund der ersten, viel zu hohen und abschreckenden Urteile sowie des politischen Drucks zu fragwürdigen Schuldeingeständnissen hinreißen lassen. In diesem Jahr sind noch über 20 Prozesse gegen G20-Gegner*innen geplant. Konkrete Solidarität und Gegenöffentlichkeit bleiben dringend notwendig.

Henning von Stoltzenberg ist Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe e. V.

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