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Räudige Schönheit
Vor 20 Jahren erschütterte der Kosovokrieg den Balkan. Noch heute findet man Spuren des Konflikts, dennoch ist Kosovos Hauptstadt Pristina durchaus reizvoll.
Auf den ersten Blick wirkt Kosovos Hauptstadt Pristina wenig einladend. Baukräne ragen in den Himmel. Sie setzen Platte auf Platte - für den nächsten Wohnblock, den nächsten Büroturm. Beton und Glas des neuen Millenniums stellen die ramponierten Wohnmaschinen aus jugoslawisch-sozialistischer Zeit schon mit ihrer Größe in den Schatten.
Eine Zierde allerdings sind auch sie nicht. Architekten scheinen kaum beteiligt am Bauboom, so wild, so ungeregelt wird hier gebaut. Der Neubau-Aufschwung ist einerseits ausgelöst durch die immer weiter wuchernde lokale und internationale Verwaltung, andererseits kurbeln ihn Reinvestitionen von Auslandskosovaren an. Ergebnis sind Wohnblocks, die nur wenige Wochen im Jahr, während des Heimaturlaubs, bewohnt sind, sonst aber leerstehen und bestenfalls während der Semester an Studenten vermietet werden.
Das ist immerhin einer der Vorzüge von Kosovos Hauptstadt: Die Bevölkerung ist jung, viele Studenten wohnen hier. Sie füllen die vielen Cafés im Stadtzentrum, haben Klubs aufgemacht, Theater und Kinos. Eines davon ist das Kino Armata. In den 1970er und 1980er Jahren wurde es von der jugoslawischen Armee betrieben. Es zeigte damals Filme mit Bud Spencer und Terence Hill, Asterix und Obelix. Mit Ausbruch des Krieges fiel es in einen Dornröschenschlaf. Doch seit der Wiedereröffnung im letzten Jahr werden in dem original erhaltenen Kinosaal mit Holztäfelung und alter Bestuhlung unabhängige Filme gezeigt oder Konzerte veranstaltet. Zuweilen treten auch Pristinas Pioniere der elektronischen Musik hier auf.
Ganz in der Nähe, in einem Plattenbau aus jugoslawischer Zeit, hat sich das alternative Theater Qendra Multimedia angesiedelt. Es produziert eigene Stücke zu Themen wie die durch die EU forcierte Korruption, über Homophobie in der Gesellschaft und über die Erfahrungen von Migration und Remigration. Zudem wird hier auch im Mai stets das Literaturfestival Polip abgehalten. Es holt serbische Autoren nach Pristina und ist zu einer Plattform des Dialogs im Balkan geworden.
Eine spezielle Attraktion liegt nur etwa 100 Meter vom Theater entfernt: eine überlebensgroße Statue des US-Präsidenten Bill Clinton. Vor zehn Jahren stellte sie der einheimische Bildhauer Izair Mustafa hier auf, um Clinton für den Einmarsch der NATO-Truppen zu danken, der letztlich erst die Gründung der Republik Kosovo ermöglichte. Schwer vorstellbar, dass Clinton solche Ehren in der Heimat erwiesen würden. Pikant ist, dass unweit des Standorts der Statue der Boulevard Bill Clinton auf den Boulevard George W. Bush stößt.
Kirchen mit Symbolcharakter
Pristina ist eine Stadt der bizarren Widersprüche. Das wird nicht nur beim Aufeinandertreffen der ehemaligen US-Präsidenten deutlich. Das größte Gotteshaus in diesem mehrheitlich von Muslimen bewohnten Land ist die Mutter-Teresa-Kathedrale der Hauptstadt. Sie wurde 2017 anlässlich des 20. Todestages der albanischstämmigen Ordensschwester Mutter Teresa eingeweiht.
Die Ausmaße der Kathedrale sind gewaltig - 32,50 Meter hoch, 42,30 Meter breit und 77,40 Meter lang. Sie steht allerdings meistens leer. Die große Freitreppe ist auch häufig vermüllt. Die Große Moschee von Pristina - inmitten der Altstadt gelegen und aus dem 15. Jahrhundert stammend - hat dagegen nur eine Grundfläche von 14 mal 14 Metern. Größer als die Moschee ist auch die nie fertig gestellte orthodoxe Erlöserkirche auf dem Gelände der Universität. Mit dem Bau wurde 1992 begonnen, in der Hochphase des serbischen Nationalismus. Viele albanische Professoren und Studenten hatten damals die Universität verlassen, etliche Lehre die Schulen verlassen und unzählige Arbeiter die staatlichen Betriebe: Sie wollten das geforderte Bekenntnis zu Serbien nicht unterzeichnen. Die Erlöserkirche musste in dieser Situation als Symbol der Stärke wahrgenommen werden.
Als die albanische Seite dann 1999 die Oberhand gewann, wurde der Bau komplett eingestellt. Jetzt ist die Kirche von Stacheldraht umgeben, auch weil es in der Vergangenheit zu Partys und Performances mit durchaus entweihendem Charakter gekommen war. Wer sich heute der Kirche nähert, muss Müll und Kothaufen umgehen. Die Verwahrlosung dieses neobyzantinischen Kirchenbaus ist deutliches Zeichen für eine eher präpotente Siegermentalität der Stadtverwaltung Pristinas.
Den düsteren Atem der Geschichte verspürt man noch deutlicher beim Besuch der Gazimestan-Gedenkstätte auf dem Amselfeld. Nur ein provisorisches Hinweisschild zeigt auf der nordwestlich von Pristina zur serbischen Enklave Mitrovica führenden Straße den Abzweig zum Monument an. Ein hoher Turm, errichtet 1953 auf einer Hügelkuppe, erinnert an die Schlacht des serbischen Heers im Jahr 1389 gegen die Osmanen. Die Schlacht selbst ging unentschieden aus, die Heerführer auf beiden Seiten fielen. Allerdings leitete die Schlacht auch die Osmanisierung des Balkans ein.
Serbischen Nationalisten indes gerann die Schlacht in den folgenden Jahrhunderten zu einem Gründungs- und Widerstandsmythos. Zum 600. Jahrestag der Schlacht, im Juni 1989, hielt der gerade einmal vor sechs Wochen ins Amt gekommene serbische Präsident Slobodan Milošević seine berühmt-berüchtigte Amselfeldrede - vor einer Million Menschen, wie es damals hieß. Die Rede wurde im Nachhinein als eine Aufstachelung zu Nationalismus und Hass vor allem auf die Albaner gegeißelt. Liest man die Rede selbst, findet man eher Belege für das Gegenteil. Er sagte damals unter anderem: »Seit Bestehen multinationaler Gesellschaften liegt der Schwachpunkt in den etablierten Beziehungen zwischen den verschiedenen Nationen. Gleich einem Schwert über ihren Köpfen besteht eine konstante Drohung, dass eines Tages eine Nation durch andere bedroht werden und eine Welle freigesetzt werden könnte, die mit Verdächtigungen, Anklagen und Intoleranz behaftet und schwer zu stoppen ist. Innere und äußere Feinde derartiger Gesellschaften wissen dies und trachten deshalb danach, innerethnische Konflikte zu stimulieren.«
Krieg immer zu erahnen
Das klingt heute wie eine Vorahnung auf den Jugoslawienkrieg, als ziemlich präziser Hinweis auf die externen Interessen, die den Krieg begünstigten. Serbiens Unterdrückungspolitik der albanischen Bevölkerung im Kosovo allerdings, die durch Vertreibungen und Verhaftungen, de facto Berufsverbote sowie die späteren Tötungsdelikte durch serbische Armee- und Polizeieinheiten gekennzeichnet war, heizten den Konflikt auch intern extrem an.
Beim Blick vom Monument aus - der Turm ist inzwischen wieder begehbar, die zwischenzeitlich zerstörte Treppe im Innenraum ist repariert - auf die sanfte Hügellandschaft des Amselfelds wird all dies vor dem inneren Auge lebendig: Die Massen, die hier vor 30 Jahren der Rede gelauscht haben mögen. Die Albaner und Albanerinnen, die Angst gehabt haben mochten vor dieser Million Menschen. Die Schlacht, die vor 630 Jahren hier getobt hatte. Der Krieg, der 1998 und 1999 das Land verwüstete.
Jetzt kommen nur vereinzelt Besucher hierher. Ein paar Touristen aus dem Westen. Ein serbisches Pärchen, das die Inschriften liest. Sie alle müssen die Polizeiwache am Eingang passieren. Die lokale Polizei ist zuständig für das Denkmal, sie kontrolliert die Ausweise und notiert, wer das Denkmal besucht.
Besser in Schuss, weil erst kürzlich restauriert, ist die Grabstätte mit dem angeschlossenen Museum für Sultan Murad. Er war der osmanische Befehlshaber bei der Schlacht auf dem Amselfeld. Sein Sarg liegt hier, Inschriften auf Albanisch und auf Türkisch erzählen seine Geschichte. Die türkische Sprache ist Hinweis auf einen weiteren politischen Player im Kosovo. Im Museum selbst geht es um Militärtraditionen der Osmanen und den Kontext und die Abfolge der Schlacht. Erklärungen sind hier auch auf Englisch und Französisch, einiges auch auf Deutsch, formuliert.
Nicht auslassen sollte man bei einem Besuch Pristinas das orthodoxe Kloster von Gračanica, nur wenige Kilometer südöstlich von Pristina gelegen. Im Inneren entfaltet sich die ganze Pracht byzantinischer Goldmosaiken. Das Kloster wird immer noch von Nonnen bewohnt. Die Hinweistafeln am Eingang verbieten das Fotografieren im Inneren - und auch das Mitbringen von Waffen; ein weiteres Zeichen für die offenbar noch immer nicht ausgestandenen Konflikte. Im Frühjahr sorgte eine 100-prozentige Steuer auf serbische Produkte für neuerlich Spannungen.
Die Kultur boomt
Im Alltag von Pristina ist davon aber wenig zu spüren. Die Versorgungslage wirkt gut, sowohl auf dem Markt in der Altstadt als auch in den Supermärkten und Malls, in denen viele aus Westeuropa bekannte Marken vertreten sind. Das Kulturleben boomt, neben dem Nationaltheater gibt es zahlreiche weitere kleinere Theater. Einige Galerien existieren, recht ambitioniert wirkt das Stacion - Center for Contemporary Art in der Altstadt. Einen Überblick über relevante albanische und kosovarische Künstler der letzten 100 Jahre erhält man in der Nationalgalerie, ebenfalls in der Altstadt. Den besten Einblick in die frühere Lebensweise im agrarisch geprägten und feudal organisierten Kosovo bietet das Ethnologische Museum, das sich in einem traditionellen Wohnhaus befindet.
Die Sicherheitslage ist zumindest in Pristina unproblematisch. Weiterhin sind Polizeikontingente aus den EU-Staaten präsent. In den Cafés und Kneipen trifft man gelegentlich auf italienische Carabinieri und französische Gendarmen in ihren heimischen Uniformen. US-Militärs verlassen eher selten ihre Compounds; diese sind wegen ihrer Zementblöcke und Stacheldrahtverhaue aber unübersehbar.
Wirtschaftlich macht der Kosovo Sprünge. Er gehört zu den wenigen Ländern Europas, die sogar während der Finanzkrise 2008 noch Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatte. Ein wichtiger Faktor hierfür sind die Zahlungen von Kosovaren im Ausland. Nach Angaben des Finanzministeriums kommen von ihnen seit 2004 pro Monat im Schnitt 101,84 Million Euro ins Land - laut Weltbank ein Anteil von 15 bis 20 Prozent des Bruttosozialprodukts. Wirtschaftshilfen internationaler Organisationen, vorrangig aus der EU und den USA, belaufen sich auf etwa 10 Prozent des Bruttosozialprodukts.
Die Stabilität des Landes ist weiter von diesen Quellen abhängig. Der grassierenden Korruption wird niemand Herr, wohl auch, weil der Wille in den Institutionen fehlt. Laut der NGO »Kosovo Democratic Institute« gingen allein 2016 1,9 Millionen Euro vom 9,1 Millionen Euro umfassenden Budget für Ausbau und Wartung der Straßen »verloren«. An den vielen Schlaglöchern ist dieser »Verlust« sehr deutlich abzulesen - sogar auf den Boulevards Bill Clinton und George W. Bush.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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