Es beginnt und endet mit der Flucht

Die Filmemacherin Yana Ugrekhelidze will mit ihrem Animationsfilm ein Gesamtbild aller Fluchtgeschichten darstellen

Frau Ugrekhelidze, der Animationsfilm »Armed Lullaby« ist Ihre Diplomarbeit, die das Massaker von Sochumi im Jahr 1993 zum Thema macht. Würden Sie etwas über das Drehbuch erzählen, das Sie ebenfalls geschrieben haben?

Als ich Reportagen über die Ankunft erster Gruppen syrischer Flüchtlinge in Griechenland gesehen habe, habe ich mich schmerzlich an die Ereignisse in Abchasien erinnert gefühlt. Einige meiner engsten Freunde sind auch aus Sochumi. Wir haben uns schon in Tiflis kennengelernt und sind seit mehr als 20 Jahren befreundet. Die Geschichte jeder Flucht unterscheidet sich im Detail, zusammen aber ergeben die Fluchtgeschichten ein Gesamtbild der puren Verzweiflung und nackten Angst um das eigene Leben. Ich wollte das alles in einer Geschichte wiedergeben. Als Erzählform habe ich mich für die Animation entschieden, wegen der Plastizität: Man kann ganz direkt und dokumentarisch werden sowie ganz abstrakt und metaphorisch, um unangenehme Ereignisse darzustellen.

Yana Ugrekhelidze

Yana Ugrekhelidze ist 1984 in Tiflis geboren. Nach einem Abschluss als Diplom-Übersetzerin in Georgien machte sie noch einen Bachelor in Kommunikationsdesign an der Peter Behrens School of Arts in Düsseldorf und ein Diplom an der Kunsthochschule für Medien in Köln (Schwerpunkt Film und Animation).

Für ihren Animationsfilm »Armed Lullaby« (2019) hat sie den zweiten Preis (1000 Euro) des diesjährigen Wettbewerbs des Berliner Münzenberg-Forums in der Kategorie Film gewonnen.

Dieses Jahr fanden zum vierten Mal die drei künstlerischen Wettbewerbe des Münzenberg-Forums (Fotografie, Film und Collage) statt, unter dem Motto »Oft ist die Zukunft schon da, ehe wir ihr gewachsen sind« - ein Zitat des US-amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck. Den ersten Preis in der Kategorie Film teilen sich Andreas Boschmann und Olga Kosanovic (jeweils 1500 Euro). Gewinner des Collage-Wettbewerbs ist Viktor Petrov. Den ersten Preis in der Kategorie Foto (2000 Euro) erhält Hannes Jung.
Foto: privat

Wie war der Produktionsprozess?

Das war sehr kompliziert. 1992 war ich acht Jahre alt und besuchte die zweite Klasse. Aber ich erinnere mich lebhaft daran, wie gleich nach den tragischen Ereignissen in der abchasischen Stadt Gagra die beste Freundin meiner Mutter mit ihren Kindern und zwei Koffern aus Sochumi zu uns nach Tiflis kam, und daran, wie ein Jahr später eine noch viel größere Flüchtlingswelle hereinbrach. Mit dabei waren unsere entfernten Verwandten aus Sochumi. An dem Tag und den darauffolgenden Tagen haben alle Erwachsenen nur geweint. Ihre Gespräche, die sie in unserer Anwesenheit führten, kreisten um den Krieg und waren schauderhaft. Aber als kleine Kinder haben wir natürlich nicht das ganze Ausmaß der Katastrophe wahrgenommen. Ich habe nicht verstanden, wie es ist, alles, was man besitzt, zu verlieren, wie es sich anfühlt, wenn du als Mutter dein Kind in einem Wald in den Schlaf wiegst oder auf einem Schiff. Jedes Kind will doch in seinem Bettchen zu Hause einschlafen. Wir planen normalerweise, was wir im Winter oder im Urlaub machen, aber wie soll es möglich sein, überhaupt irgendetwas zu planen, wenn du ohne Ziel in Hauspantoffeln irgendwohin fliehst, um dein Leben zu retten? Erst während der Verarbeitung aller Informationen für den Film, bei den Recherchen von Video- und Archivmaterial und aus den Erzählungen meiner Freunde und Verwandten wurde mir das klar. Ich habe jeden Tag geweint. Das alles fiel mir sehr schwer. Deswegen habe ich den ganzen Film eher intuitiv aufgebaut - ohne informativen Teil, ohne Einführung, ohne Prologe, ohne Dialoge, ohne Ende. Der Film fängt mit der Flucht an, und er endet auch mit der Flucht, einer endlosen Flucht, zu der jeder Krieg führt. Der Krieg zerstört den normalen Gang des Lebens, wodurch zahllose Menschenschicksale gewaltsam umgeschrieben werden. Das hinterlässt Narben, die auch die zukünftigen Generationen noch mit sich tragen. Ich glaube, wir tragen diese Narben mit uns, meine ganze Generation, die Kinder aus den 80ern und 90ern.

Sie sind in Tiflis geboren und kamen im Rahmen eines Bachelorprogramms nach Deutschland. Wenn man aus einem anderen Land kommt, wird man manchmal auf seine »Heimat« reduziert, beispielsweise wird oft von einem verlangt, lieber über seine »Heimat« zu schreiben oder Filme darüber zu machen. Haben Sie Ähnliches an der Universität oder bei der Arbeit in Deutschland erlebt? Ist das dann nervig oder eher von Vorteil?

Um etwas erzählen zu können oder über irgendwelche Ereignisse reden zu können, braucht man schon einen gewissen Zeitabstand zum Geschehenen. Nur Dokumentarfilme passieren im Jetzt, man zeigt einfach das, was gerade läuft. Diesen Zeitabstand braucht man eigentlich, um in der Lage zu sein, die Sachen nicht ganz subjektiv zu betrachten, sondern ein bisschen wie von der Seite, wenn das Ganze nicht mehr so nah an einem ist. Erst später kann man die unangenehmen Ereignisse verdauen, sie in Wörter und andere Formen kleiden. Sofort kann man das nicht, glaube ich. Wenn man im Ausland ist, erzählt man sehr gerne über seine Heimat, aber ich denke, nicht aus nostalgischen Gründen, sondern weil sie das Einzige ist, was man als größte Erfahrung mit sich trägt. Ich werde tatsächlich noch ein paar Projekte über Georgien machen. Es gibt bestimmte Themen, über die ich sehr gerne erzählen und die ich gerne berühren möchte.

»Armed Lullaby« ist Ihr dritter Kurzfilm. Spielen die anderen Geschichten auch in Georgien?

Eigentlich sind alle meine Projekte einfach über das Leben. Nehmen wir »Armed Lullaby«: Die Geschichte ist leider sehr universell. Es hat sich leider auf der Welt seit den 90er Jahren kaum etwas verändert - Abchasien, Bosnien, Serbien, Ruanda, Syrien. Als ob wir nichts von unseren Fehlern lernen, alle Konflikte folgen demselben tragischen Muster. Ich lebe seit zehn Jahren in Deutschland, und irgendwann fange ich an, auch über das Leben in Deutschland zu erzählen und darüber, was ich hier erlebt habe. Jetzt kann ich es noch nicht, weil das Erlebte noch zu nah ist.

Ist das Wort »Heimat« für Sie von Bedeutung?

Es ist ein ganz schönes Wort, mit dem man gerne schöne Sachen verbindet und sehr gerne philosophiert. Am Anfang verbindet man mit der Heimat irgendwelche schönen Fragmente aus der Kindheit, das Aroma vom Mamas Pfannkuchen, den Schatten der Bäume auf der Wand im Kinderzimmer und das gemeinsame Abendessen mit der Familie. Mit der Zeit verschmelzen all diese Sachen mit neuen Aspekten aus dem Leben. Die Heimat wird dann zum Beispiel der Ort, wo deine Kinder zur Schule gehen oder wo du arbeitest.

Sie haben »Armed Lullaby« dieses Jahr auf verschiedenen internationalen Filmfestivals gezeigt, darunter die Berlinale, Cannes, Moskau und nicht zuletzt Ihre Geburtsstadt Tiflis (auf dem CinéDOC-Tbilisi Documentary Film Festival). Wie unterschiedlich waren die Reaktionen auf den Film?

Die Reaktionen waren mehr oder weniger überall gleich. Es geht um Flucht und Vertreibung, und diese haben keine Nationalität. Es geht letztendlich um diejenigen, die am meisten unter den Auswirkungen von Kriegen leiden. In Georgien hatte man natürlich einen bittereren Nachgeschmack, da man die Geschichte sehr persönlich wahrgenommen hat. Es wurde noch einmal daran erinnert, dass der Konflikt noch nicht gelöst wurde und das Problem immer noch da ist. Ein Teil von Georgien ist von Russland okkupiert, und es ändert sich gar nichts seit mehreren Jahren, es hat sich nur noch verschlimmert: Man denke an Ossetien im Jahr 2011. In Moskau ist schwer zu beurteilen, ob der Zuschauer das als konkrete Geschichte wahrgenommen hat oder als universelle, ob er verstanden hat, dass es im Film auch um Konflikte in der Auseinandersetzung um die Einflussgebiete von Russland geht. Ich weiß es nicht. Wenn man konkret über den georgisch-abchasischen Konflikt redet, muss man sich auch mit dem Donbass und der Krim in der Ukraine befassen und sich viele Fragen stellen, was ganz unangenehm sein kann. In der Ukraine ist das Gleiche passiert, viele fragen: Wie ist es dazu gekommen? Naja, man muss ein bisschen zurückschauen - alles hat mit Abchasien begonnen, im Jahr 1993.

Und die letzte Frage: Kennen Sie Willi Münzenberg?

Ich kenne Willi Münzenberg und bin fasziniert, dass er im Widerstand gegen Hitler und Stalin war. Und ehrlich gesagt finde ich auch keinen Unterschied zwischen Hitler und Stalin.

Die Bilder, Filme und Collagen der Gewinner*innen der Wettbewerbe des Münzenberg-Forums werden vom 1. bis 31. Oktober im Foyer des FMP1 (Franz-Mehring-Platz 1, Berlin) ausgestellt. Am 1. Oktober finden die Vernissage und die Preisverleihung statt.

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