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Vom Gebrauch und Missbrauch eines hohen Gutes

Norman Paech diskutiert Menschenrechte in Geschichte und Gegenwart

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer auch immer über Menschenrechte zu publizieren gedenkt, läuft Gefahr, Illusionen zu erliegen. Oder, schlimmer noch, sie zu erwecken und wachzuhalten. Nicht so der in bewunderungswerter Permanenz publizierende Norman Paech, der sich in seiner neuesten Monografie ebendiesen Menschenrechten widmet.

Norman Paech: Menschenrechte. Geschichte und Gegenwart – Anspruch und Realität.
PapyRossa, 221 S., br., 16,90 €.

Zu den Menschenrechten - so behauptet jedenfalls Artikel 1 des seit dem 3. Oktober 1990 für ganz Deutschland geltenden Grundgesetzes der Bundesrepublik - bekenne sich das gesamte deutsche Volk. Wunschdenken pur, möchte man meinen. Als ob es ein einheitliches Bekenntnis aller Zugehörigen eines Vielmillionenvolkes von Armen und Reichen, von Mächtigen und Machtlosen, von Gewalthabern und Gewaltunterworfenen, von Linken und Rechten, von (unterschiedlich orientierten) Gläubigen und Ungläubigen überhaupt geben könne.

Die Europäische Union beansprucht, eine auf Werten - um Gottes willen nicht etwa auf Interessen - beruhende Rechtsgemeinschaft zu sein, wobei sie zu diesen Werten (in Artikel 2 des seit dem 1. Dezember 2009 geltenden Lissabon-Vertrages) die »Wahrung der Menschenrechte« zählt. Ein spezieller, auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention eingerichteter Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte soll deren Einhaltung sicherstellen; sogar Individualbeschwerden sind zulässig. Und die Vereinten Nationen hatten bereits in Artikel 1 ihrer Gründungscharta von 1945 nicht nur die »Wahrung des Weltfriedens« zu ihrem Ziel erklärt, sondern eben auch die »Festigung der Menschenrechte«. Der Weltfrieden konnte seit 1945 zu keinem Zeitpunkt gewahrt werden - und was die Menschenrechte anbelangt, so kann von ihrer »Festigung« keine Rede sein, bedenkt man die Terrorismus- und die Kriegstoten, die Flüchtlingsströme und die auf der Flucht Ertrinkenden, die Hungernden, die Arbeits-, Obdach- wie auch Bildungslosen unserer Zeit.

Dementsprechend respektlos ist die Ausgangsthese von Norman Paech: Die Universalisierung der Menschenrechte sei der notwendige politische Beipack der Globalisierung der Wirtschaft, mit dem die globale Herrschaft im weltweiten Kapitalismus ideologisch gesichert werden soll. Pathetische Postulate, wie es die Menschenrechte nun einmal sind, im Munde der »Deutschland, Deutschland über alles« grölenden Deutschen darf man so wenig zu ihrem Nennwert nehmen wie aus dem Munde eines »America first« beanspruchenden Staatspräsidenten.

Zum Gebrauch der Menschenrechte gehört nun einmal ihr Missbrauch. Sie sind einerseits ein Kampfbegriff der um ihre Befreiung aus Sklaverei, Leibeigenschaft wie aus anderen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen Kämpfenden, aber auch ein Verschleierungsbegriff der ihre eigne Vorherrschaft über und gegen andere Rechtfertigenden. Von Anfang an.

Es waren Sklavenhalter, die den Gründungsdokumenten der USA im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts die Worte voranstellten, dass jeder Mensch von Natur aus frei und gleich sei wie jeder andere Mensch. Hundert Jahre später hatte sich der Gesetzeswortlaut nicht verändert, wohl aber hatte sich die Zahl der Sklaven in den USA verzehnfacht. Die Menschenrechte waren als Männerrechte von Produktionsmitteleigentümern konzipiert. Die Kriege unseres Jahrhunderts von der Bombardierung Jugoslawiens 1999 bis zu den Invasionen in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien sowie die gegenwärtigen Kriegsdrohungen gegen Iran werden als »responsibility to protect« oder als »humanitäre Intervention« verkauft, also menschenrechtlich legitimiert. Man erinnere sich an des gewesenen Grünen Joschka Fischer diesbezügliche »Auschwitz-Lüge«.

Da Norman Paech Völkerrechtler ist - der Rezensent hält ihn für den im Demokratie- und Sozialismusinteresse wichtigsten im deutschen Sprachraum -, war zu erwarten, dass seine Darstellung, wie Menschenrechte im Dienst von »kalten« und »heißen« Kriegern ge- und missbraucht werden, besonders eindrucksvoll ist, weil quellenbelegt. Noch nirgends erfolgte bisher eine so gründliche auf die Kernproblematik der Menschenrechte bezogene Auswertung der Berichte der (jüdischen) Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates von 2007 und 2010 über die verlängerte Besatzung samt faktischer Annexion palästinensischen Landes nebst Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Palästinenser. Diese weist alle Merkmale des Verbrechens der Apartheid auf, wie sie von der 1976 in Kraft getretenen »Internationalen Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung der Apartheid« zum Kampf gegen die damalige Politik und Praxis der Rassendiskriminierung im südlichen Afrika charakterisiert wurde. Noch 1998 hat Artikel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes das »Verbrechen der Apartheid« als unmenschliche Handlungen definiert, »die im Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung anderer rassischer Gruppen begangen werden«. Paech hält das Problem der Apartheid innerhalb des Palästina-Konflikts für so wichtig, dass er - der vor einem sein eigenes Leben gefährdenden Einsatz zu dessen Lösung nicht zurückscheute - die zentrale Passage der wenig bekannten, von der BRD (im Gegensatz zur DDR) nie anerkannten Anti-Apartheid-Konvention in eigener Übersetzung abdruckt.

Natürlich begnügt sich Paech nicht mit der Instrumentalisierung der Menschenrechte in der Völkerrechts- und Weltwirtschaftspraxis. Paech bietet eigenständige Ausführungen über die verschiedenen, auch gegensätzlichen Begründungen der Menschenrechte, über die problemgeladene Inanspruchnahme von Menschenrechten durch christliche Kirchen zur Missionierung und Kolonisierung Andersdenkender und Andersglaubender und über das spiritualistische Freiheitsverständnis derjenigen, die sich auch in Ketten einbilden, frei zu sein.

Des Weiteren äußert sich der Autor über diejenigen, die Gedankenfreiheit erkämpft, sich aber Narrenfreiheit eingehandelt und sich damit begnügt haben; über das Menschenrechtsverständnis utopischer und wissenschaftlicher Kommunisten sowie innerhalb der Frauenbewegung und über das Verhältnis von politischen und sozialen Menschenrechten. Er diskutiert sodann die Existenz oder Nichtexistenz eines Rechtes auf Frieden, das Recht auf Entwicklung und die damit im Zusammenhang stehende Pflicht zum Schutz der Natur, die Notwendigkeit einer Justiziabilität von Menschenrechten, über das Verhältnis von Klassen- zu Menschenrechten sowie den angeblichen Geburtsfehler des Marxismus, das Recht auf die materiellen Produktionsverhältnisse reduziert und die Menschenrechte als bloße Brüderlichkeitsphrasen denunziert zu haben.

Bei einer sicherlich bald notwendigen Zweitauflage wären ein Begriffs- und ein Namensregister ein Gewinn, ebenso eine Einbeziehung besonders wichtiger menschenrechtsrelevanter Urteile bundesdeutscher Justiz.

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