Erinnerung als Softpower

80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist Deutschland für seine Softpower namens Erinnerungspolitik bekannt. Aber wie lange noch?

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 6 Min.
»Erinnerung hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären.« (Noach Flug, Auschwitz-Überlebender)
»Erinnerung hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären.« (Noach Flug, Auschwitz-Überlebender)

Auf dem Gelände einer ehemaligen Schule im Zentrum von Phnom Penh schleppt sich Manuel Erbenich durch die gellende Mittagshitze. Dieser einstige Schulhof in der kambodschanischen Hauptstadt, der später ein Folterhof wurde, ist gefüllt mit Besuchenden aus aller Welt, von denen sich die meisten einen Audioguide ans Ohr halten. Um niemanden zu stören, flüstert Erbenich: »Die Audioguides für dieses Museum hier wurden im Austausch mit uns entwickelt.« Es herrscht stille Konzentration.

Manuel Erbenich arbeitet für den Zivilen Friedensdienst der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), bei dem er ein Projekt zur Vergangenheitsbewältigung leitet. Dieses Museum namens Tuol Sleng, das jeder Touri-Guide als eines der wichtigsten in dem südostasiatischen Land listet, würde es ohne die Arbeit von Erbenich und dessen Vorgängerinnen wie Kollegen so nicht geben. Im Audioguide erzählt ein ehemaliger Insasse, wie hier einst gefoltert wurde. Beklemmend nah dran ist man an den Gräueln.

In Kambodschas Geschichte gibt es bekanntlich ein dunkles Kapitel: Am Ende eines Bürgerkriegs setzten sich 1975 die Roten Khmer an die Macht, eine sich kommunistisch nennende Terrorgruppe, die eine klassenlose Gesellschaft erzwingen wollte: Sie verbrannte Bücher, schickte Stadtbewohner in die Felder zum Reisanbau. Widersacher wurden in Tuol Sleng, das zuvor eine Schule gewesen war, gefoltert oder auf einem der 300 »Killing Fields« getötet. Binnen dreieinhalb Jahren wurden so um die zwei Millionen Menschen ermordet.

Der US-Schriftsteller Thomas Berger nennt Deutschland gar »globalen Goldstandard für Schuld.« Und jetzt? Macht Deutschland quasi damit Politik. Weltweit.

Als Ende der 90er Jahre Frieden einkehrte, kam die GIZ, die im Auftrag des deutschen Staates Entwicklungshilfe leistete, ins Land. »In Kambodscha ist man am deutschen Umgang mit Geschichte sehr interessiert«, berichtet Erbenich. Hier sei bekannt, dass dieses ferne europäische Land mit totalitären Regimen so seine Expertise hat. »In Tuol Sleng bauen wir ein Archiv auf, als Grundlage für eine Auseinandersetzung mit dem, was hier ab 1975 geschah.« Mit Schulen wurde auch ein Konzept für den Geschichtsunterricht erarbeitet.

Tatsächlich hört man in Kambodscha immer wieder, dass Deutschland als Vorbild gilt für den Umgang mit der eigenen Geschichte. Zwar verbindet man die Nation im Zentrum Europas bis heute auch mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, der brutalsten Ausprägung des Faschismus inklusive Konzentrationslager und Holocaust. Doch kurioserweise scheint aus diesem historischen Malus eine Art Bonus geworden zu sein. Und dies nicht nur in Kambodscha.

Im »Nation Brands Index« etwa, einem seit 2005 jährlich unter rund 60 000 Personen durchgeführten Nationenvergleich, der neben diversen Themen auch nach der wahrgenommenen Ehrlichkeit einer Nation gegenüber der eigenen Vergangenheit fragt, landet Deutschland von 60 Ländern auf Platz zwei – die sechs Jahre zuvor war es sogar je Rang eins gewesen.

Mehr noch: Während die Deutschen nach 1945 wegen der Kriegsvergangenheit noch lange Zeit darum kämpfen mussten, in der Welt wieder Ansehen zu erlangen, ist es mittlerweile ebendiese Kriegsvergangenheit, die Deutschland eine neue Art von gutem Ruf bereitet. Das Land »verdient viel Lob«, findet der britische Historiker Ian Kershaw wegen der Aufarbeitung. Der US-Schriftsteller Thomas Berger nennt Deutschland gar »globalen Goldstandard für Schuld.« Und jetzt? Macht Deutschland quasi damit Politik. Weltweit.

In Berlin-Mitte nickt Anna Kaminsky, wenn sie an Kambodscha denkt. »Deutschland ist in Sachen Aufarbeitung seiner Geschichte eine Ausnahme«, sagt die Historikerin. »Hier gab es den gesellschaftlichen Konsens, dass wir uns ganz gründlich mit der Geschichte auseinandersetzen müssen.« Kaminsky ist Direktorin der Stiftung Aufarbeitung, einer in den 90er Jahren durch den Bundestag begründeten Institution, die es seither zur Aufgabe hat, das kollektive Erinnern ständig zu befruchten.

So ist Kaminskys Institution ein internationaler Player in Sachen Erinnerungspolitik, von denen es weltweit nicht viele gibt – aus Deutschland aber gleich mehrere: Die Stiftung Aufarbeitung bezieht sich auf die SED-Diktatur der DDR, hinzu kommt die vom Land Berlin und dem Bund geführte Stiftung Topographie des Terrors und NS-Verbrechen. Hinzu kommt die in der Entwicklungszusammenarbeit aktive GIZ. Die Liste ließe sich auf Länder- und Kommunenebene fortführen.

Deutschlands Staat, Unternehmen und Gesellschaft übten sich lange in Schweigen zum Umgang mit Schuld aus der Nazi-Zeit. Die Nürnberger Prozesse, die Auschwitz-Prozesse, die 68er sorgten für eine schrittweise Konfrontation mit den Verbrechen. Mit dem Mauerfall, dem Ende der DDR und damit der Wiedervereinigung habe endlich auch für Fragen der Vergangenheitsbewältigung ein frischer Wind geweht. »Plötzlich herrschte Einigkeit: Die gleichen Fehler wie nach 1945 dürften wir nicht wieder machen«, sagt Kaminsky mit ernstem Blick.

Die Sekretärin bringt Bücher und Broschüren in den Raum. Eins handelt vom Verbleib der Berliner Mauer, deren Teile in Länder verschenkt wurden, in denen Diktaturen herrschten. Ein Flyer erklärt den Karl-Wilhelm-Fricke-Preis, der die »Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen« fördert. Dann wäre da das Austauschprogramm »Memory Work«, das »grenzüberschreitende Kooperation bei der Aufarbeitung von Diktaturen und staatlichen Gewalterfahrungen« unterstützt. Und einiges mehr.

Die Botschaft, die durch diese Institutionen und ihre Aktivitäten spricht: Deutschland kennt sich mit Diktatur und Gewaltverbrechen aus, hat gelernt und kann sein Wissen weitergeben. Und diese Message kommt an. Zum Beispiel in Taiwan, der demokratisch regierten Insel vor der Küste Festlandchinas, die bis in die 80er Jahre eine Militärdiktatur war, ehe die Zivilgesellschaft die Demokratie erzwang. Heutzutage beraten deutsche Institutionen bei der Öffnung von Archiven des alten Staatsapparats.

Ähnlich sieht es in Südkorea aus, wo ebenso bis in die 80er Jahre das Militär regierte. »Heute hat auch jedes Ministerium in Südkorea eine Stelle zur Vorbereitung der Wiedervereinigung mit dem Norden und für Aufarbeitung«, so Kaminsky. Die Stiftung hält hierbei den Kontakt. Jene Referate in Südkorea analysieren den Norden, stellen Pläne für das Szenario einer Wiedervereinigung auf. »Für ein kollektives Heilen ist so etwas von unschätzbarer Bedeutung«, so Kaminsky.

Ist Aufarbeitung eine deutsche Softpower? »Kann man wahrscheinlich so sagen«, findet Kaminsky. Wobei sie betont, Erinnerungspolitik gerate nie an ihr Ende. Wie in den Philippinen, wo bis 1986 eine Militärdiktatur herrschte, was in einem Museum dokumentiert werden soll. Doch die Planer werden seit Jahren immer wieder von der Regierung vertröstet. »Bei vielen Menschen entsteht schon der Eindruck, Eröffnung und Aufarbeitung würden vermieden«, sagt Chuck Crisanto, der das Museum konzipiert hat.

Crisanto blickt insofern mit Neid nach Deutschland, wo er das Thema Aufarbeitung als eine ernste Angelegenheit wahrgenommen hat. Ein Eindruck, der sich international etablierte. Wobei dieses Bild Risse bekommt. Da sind nicht nur prominente deutsche Institutionen und Individuen und die Aufforderungen, sich ihrer eigenen Arisierungs- und NS-Geschichte zu stellen, denen immer wieder ausgewichen wurde. So etwa die Hertie-Stiftung oder der Hamburger Logistikmilliardär Klaus-Michael Kühne (und weitere).

Auch die derzeitige deutsche Politik wirft Fragen auf: Einerseits wäre da der Aufstieg der AfD, die Faschisten möglicherweise schon bald in machtvolle Positionen befördert. In einigen Wahlumfragen war sie zuletzt stärkste Kraft. Andererseits erntet Deutschlands Regierung viel Kritik für ihre Unterstützung der Regierung Israels, die auf den Terroranschlag der Hamas vom Oktober 2023 die Zivilbevölkerung in Gaza vertreibt, beschießt und eine humanitäre Krise hinnimmt.

Die Lehre aus dem Holocaust müssten universelle Werte sein, die für alle gelten, findet etwa Enzo Traverso, Historiker und Professor an der US-amerikanischen Cornell University. »Deutschlands Vergangenheitsbewältigung ist kein Vorbild mehr.«

- Anzeige -

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.