Nach dem Heulen kommt das Lachen

Lothar König geht nach 29 Jahren als Jugendpfarrer in Jena in Rente. Ein antifaschistischer Dank

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 9 Min.

Als im Osten aufgewachsener linker Jugendlicher kam man um ihn eigentlich nicht herum. Wenn es eine antifaschistische Demonstration von Bedeutung gab, seien es die turbulenten Jahre 2009 bis 2011 in Dresden, sei es Heiligendamm 2007, seien es die Proteste in irgendwelchen Käffern, in denen man bereits alles verloren glaubte - irgendwann traf man immer auf den blauen VW-Kastenwagen. Antifa- und St. Pauli-Fahnen an den Seiten, auf dem Dach die aufmontierten Boxen, an der Frontscheibe ein Schild mit der Beschriftung »JG - Stadtmitte Jena«. Wenn der Jugendpfarrer Lothar König dann im Wagen in das Mikro sprach, unverblümt, bedächtig, empathisch auch gerade in den hitzigen Momenten, nahm das den Umstehenden die Angst. Da war klar: Hier ist einer, der weiß wie es läuft, einer der Verantwortung übernimmt. Einer, der zwar mit allen Demokraten kann, bei den Faschos, egal welcher Sorte, aber kompromisslos ist.

Wir haben damals mit »unserem« Lothar Stunden in der Kälte gewartet, haben vor seinem Lauti getanzt, mussten manchmal rennen und haben ihn dann später irgendwo wiedergefunden. Mit jeder neuen staatlichen Repressionswelle wuchs die gefühlte Verbundenheit zu dem Mann mit dem mächtigen Rauschebart, der ewigen selbst gedrehten Fluppe in der Hand und der Narbe, die sich über seinem rechten Auge bis zur Schläfe zieht. Das Mal stammt von 1997, da hatten drei Burschenschaftler auf Königs Kopf eingeschlagen. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Jetzt ist Lothar 65 und in Rente gegangen.

Ein Anruf bei der Jungen Gemeinde Anfang Oktober. Die Abschiedsfeiern sind alle gelaufen. König muss im Rahmen der Pfarramtsübergabe noch die Jahresabrechnung machen, er ist leicht in Verzug. Am Telefon beschreibt er seinen letzten Arbeitstag. Um vier Uhr sei er extra aufgestanden, um dann mit einer 9. Klasse in Mühlhausen zu sprechen. Die Jugendlichen wollten von ihm wissen, wie er zu dem wurde, der er heute ist.

Bei den Langhaarigen

»Das ist ganz einfach«, sagt König. 1969 schreibt er als 15-Jähriger in Nordhausen aus Langeweile »Dubček« an eine Häuserwand. Die Solidarisierung mit dem Initiator des Prager Frühlings führt zur prompten Hausdurchsuchung im Hof der Eltern, die Karriere in der DDR ist gelaufen. »Dadurch habe ich gelernt, ein bisschen Widerstand zu üben und mich nicht so billig entdecken zu lassen«, sagt der 65-Jährige. Der Wunsch nach einem freien, selbstbestimmten Leben führt ihn zu den »Langhaarigen«, Osthippies sozusagen. Die Musik der Stones reizt ihn besonders. Die Szene zerfällt jedoch wieder nach ein paar Jahren. Ein Teil geht ins bürgerliche Milieu, einer in den Westen, ein anderer versackt. Und wieder ein anderer findet in der Kirche Unterschlupf, so wie auch König. »Die hatten da völlig einen an der Klatsche, die waren wirklich abstrus«, sagt der ehemalige Pfarrer und muss heftig lachen. Er braucht lange, um anzukommen, findet letztlich das, was er sucht. Die Lektüre kritischer Literatur trifft auf spirituelle Auseinandersetzung. Der Zerspanungsfacharbeiter wird Diakon. Und legt sich 1989 in Merseburg als Pfarrer mit Sandalen und dicker Stasi-Akte erneut mit dem System an.

1990 übernimmt König dann die Junge Gemeinde Jena. Die Baseballschlägerjahre beginnen. Nazis machen Jagd auf alles und jeden, der nicht in ihr Weltbild passt, auch die JG-Mitglieder bleiben davon nicht verschont. Königs Tochter Katharina wird mit 14 das erste Mal zusammengeschlagen, die Angreiferin ist eine Freundin von Beate Zschäpe. König warnt vor der rechten Radikalisierung. Prophezeit praktisch die Entstehung des NSU. Anstatt auf ihn zu hören, geht die Polizei mit Razzien gegen die »Nestbeschmutzer« vor, die Stadtverwaltung kürzt zeitweise die Fördermittel. Die JG wird dennoch ein Zufluchtsort für die Kritischen und Widerspenstigen. Und König bekannt für seine kompromisslose Haltung, die bis heute anhält. »Keinen Millimeter weiter. Hier stehe ich und hier gehe ich nicht weg. Und wenn ihr Nazis meint, ihr müsst hier durchkommen, dann müsst ihr mich schon umbringen«, sagt der Geistliche. Eine Gefahr, die kein Hirngespinst ist. Die Schweizer Neonazi-Band »Erschießungskommando« bedrohte 2016 und dann erneut in diesem Sommer Vater und Tochter mit dem Tod. Für Lothar König selbst seien die Morddrohungen keine große Sache mehr, sagt er. »Sicher, Folter wäre unschön. Aber Herrgott, ich habe vielleicht zehn Leben hinter mir. Für meine Tochter Katharina und die anderen Menschen, die sich engagieren, sieht das schon ganz anders aus.«

Permanente Schikanen

Leichter wäre das Standhalten wohl ohne die permanenten Schikanen der Behörden. 2011 protestiert König mit 20 000 anderen gegen Neonazis in Dresden. Zum zweiten Mal sind Blockaden erfolgreich. Die Staatsanwaltschaft der sächsischen Landeshauptstadt wirft dem Pfarrer im Anschluss schweren Landfriedensbruch, Beihilfe zum Widerstand und versuchte Strafvereitelung vor, er soll Demonstranten zur Gewalt angestiftet haben. Polizisten durchsuchen Lothars Dienstwohnung, beschlagnahmen seinen Lauti und beschnüffeln ihn über ein 129er-Verfahren. Der Prozess, von konservativer Wut und der Suche nach einem Sündenbock für Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei getrieben, zieht sich hin. Nachgewiesene Absprachen von Beamten zu Falschaussagen und die Manipulation und Unterdrückung von Beweismitteln sorgen für einen bundesweiten Skandal, der öffentliche Druck auf die sächsische Justiz wächst. Die Kosten für Lothar haben sich zu diesem Zeitpunkt schon auf 80 000 Euro summiert. Er kann sie nur durch eine bundesweite Solidaritätskampagne decken. Auf Konzerten von Feine Sahne Fischfilet, der Sänger Jan »Monchi« Gorkow ist ein Freund, werden die Soli-T-Shirts »Sportgruppe Lothar König« verkauft.

Dann endlich, 2013, wird das Mammutverfahren gegen eine Zahlung von 3000 Euro eingestellt, doch richtige Freude stellt sich nicht ein. »Mir wurde ein fauler Kompromiss angeboten, aber ich hatte keine Kraft mehr, um weiter zu machen«, sagt König heute. »Da bin ich ein Stück weit gescheitert.« Das ehemalige RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo, 20 Jahre seines Lebens im Gefängnis, schreibt ihm einen Brief. »Mensch, Lothar, wenn du schon das nicht durchstehst, wer soll das denn dann schaffen?« Lothar verteidigt sich, im hier und jetzt: Die JG habe durch das jahrelange Verfahren kurz vor dem Zusammenbruch gestanden. »Wir machen Jugendarbeit. Dazu gehört Spaß haben und einfach mal ein paar schräge Sachen machen.« Man könne Jugendliche nicht ewig so einem wahnsinnigen politischen Prozess aussetzen, da wären auch die letzten noch abgehauen, sagt König. »Meine Aufgabe als Jugendpfarrer war es ebenso aufzuzeigen, wie herrlich diese Welt ist.«

Für kommenden Januar ist nun der bisher wohl letzte Prozess gegen König angesetzt. Der als Rechtsaußen stehend geltende Staatsanwalt Martin Zschächner warf dem Geistlichen vor, mit seinem Lauti 2016 fast einen Polizisten überfahren zu haben. König erklärte dagegen, der Polizist sei in einer unübersichtlichen Verkehrslage plötzlich auf die Straße gelaufen. Zschächner wurde mittlerweile versetzt, das Verfahren läuft aber noch weiter. »Fehlendes Vertrauen in die Justiz zerstört eine Gesellschaft«, sagt Lothar. Und: »Noch so ein gewonnener Prozess und ich bin pleite.«

Die JG sammelt wiederum grade Spenden für eine Klage gegen Björn Höcke. Nach Recherchen des Journalisten Andreas Kemper hatte der thüringische AfD-Chef in einer Neonazi-Zeitung unter dem Pseudonym »Landolf Ladig« Artikel verfasst. Offenbar um von sich abzulenken, behauptete Höcke in einem Interview, die JG habe die Figur erfunden. »Die AfD spaltet die Gesellschaft«, sagt König.

Kommunismus und Himmelreich

Neben dem Lothar im Lautsprecherwagen, in der Kommunalpolitik und im Gerichtssaal gab es derweil eben auch immer den anderen Lothar bei der offenen Arbeit, der Predigt, in der Kirche. Fotos zeigen ihn mit schwarzer Pfarrerskutte und Bibel in der Hand. Für so manchen linken Atheisten ein ungewohntes Bild. »Manche sagen Kommunismus, andere sagen Himmelreich, das ist für mich nicht so entscheidend«, sagt König. Die Grundbotschaft, die sei bei beiden gleich, wenn auch Marx bei Jesus abgeschrieben habe. Die Wörter Optimismus und Hoffnung mag der Alte jedoch nicht, zu abgenutzt. »Wo ich Glauben sage, meine ich etwas, das noch nicht fertig ist, das noch nicht zu Ende gedacht ist. Dass noch ein Wunder geschieht.« So, wie damals, als die israelitischen Sklaven aus der Knechtschaft in Ägypten abgehauen sind. »Seitdem haben alle Mächtigen einfach Schiss, dass irgendwann die Leute wieder aufstehen und damit durchkommen.« Die andere Kraftquelle neben der Religion ist für Lothar die Musik. »Wenn der Kapitalismus irgendwann wieder meint, endgültig gesiegt zu haben, dann sage ich dir, da kommt irgendwo ein Musiker her und dann ist das alles hier wie weggewischt.«

Wer ein Leben wie König führt, der trifft auf Weggefährten aus den verschiedensten Welten. Die Anerkennung seiner Arbeit ist entsprechend breit verteilt. »Lothar König war ein streitbarer Pfarrer und ist ein ehrenwerter Mann, der seine christlichen Grundüberzeugungen stets gelebt hat«, sagte der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE), der auch am Abschiedsgottesdienst teilnahm, gegenüber »nd«. »Er bleibt in seinem unermüdlichen Einsatz für Demokratie und gegen den Rechtsextremismus ein Vorbild und Mutmacher für die Jugend.« Der Sänger Torsun Burkhardt der Band Egotronic schrieb mal auf seinem Blog: »Lothar ist der mir bisher einzige bekannte Geistliche, den man mit Fug und Recht Würdenträger nennen kann. Und das sogar im Suff, was ich weiß, weil wir wild debattierend doch prächtig dem Alkohol zusprachen.« Gelobt werden von vielen vor allem Königs stetige Deeskalationsbemühungen. »Wie anstößig und provozierend das Evangelium ist, das wurde immer wieder anschaulich in seinem radikalen Einsatz für Gewaltfreiheit und Menschenwürde«, sagte jüngst die scheidende Bischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Ilse Junkermann. »Er geht mit seinen Leuten einen weiten Weg, damit sie nicht zu weit gehen«, sprach Albrecht Schröter (SPD), der ehemalige Oberbürgermeister von Jena.

Widerspruch weiter notwendig

Die nächsten Monate sind für Lothar schon mehr oder weniger verplant. Die neue Wohnung muss renoviert werden, bald steht zudem noch eine Operation an der Hüfte an. »Im Frühjahr habe ich dann endlich die Chance, mich ein bisschen mit dieser neuen Zeit anzufreunden, wütend zu werden und Depressionen zu bekommen«, sagt König lachend. Er sei gespannt, was der oder die, wer weiß das schon genau, noch für ihn bereit halte. Politisch wolle er sich natürlich weiter engagieren. »Das geht mit meinem Grundverständnis von Leben, Glauben und Menschsein gar nicht anders.« Widerspruch werde weiter notwendig sein. »Es gehört sich nicht, Menschen im Mittelmeer ersaufen zu lassen und wenn neben mir jemand Hunger hat, dann gebe ich ihm etwas ab.« Mit den Demos wolle er es trotzdem erst mal etwas ruhiger angehen lassen, so der ehemalige Pfarrer. »Wir gehen davon aus, dass er danach nicht ruhiger wird«, sagen wiederum seine alten Schützlinge der JG. Für Lothar bleibt jedenfalls wichtig: Es gebe überhaupt keinen Grund aufzugeben, auch wenn es manchmal zum Heulen ist. Aber nach dem Heulen komme ja auch wieder das Lachen.

Und was passiert mit dem blauen VW-Bus? »Das Original haben wir irgendwo in dieser Welt versteckt«, sagt König und schmunzelt. Aber wenn mal ein Museum den Lauti zeigen wolle, werde er prüfen, ob es das Museum wert ist. »Dann kriegen die den auch geschenkt.«

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