Werbung

An der »grünen Zone« statt im Hörsaal

In Irak halten die Proteste vor allem junger Menschen an / Helfer zählen bereits mindestens 250 Tote

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Dienstag blieben in Bagdad die Hörsäle leer. Viele Dozenten hätten ihre Vorlesungen abgesagt, sagt eine Sprecherin der Universität, Hala Hassan, und fügt gegenüber »nd« hinzu, sie mache sich Sorgen: »Ich kann diese jungen Leute verstehen. Aber sie sind auch irgendwie meine Kinder.«

Und nun sind diese jungen Erwachsenen einmal mehr zu Hunderten statt zur Vorlesung vor die Tore der »grünen Zone« gefahren, jenem besonders gesicherten Gebiet im Stadtzentrum, in dem sich Parlament, Regierungssitz, ausländische Botschaften und Hotels befinden.

Auch in anderen Städten wird demonstriert. Aufnahmen des irakischen Fernsehens zeigten eine aufgebrachte, wütende Menge in Kerbela. Dort wurden in der Nacht zum Dienstag nach Angaben des Roten Halbmondes mindestens 14 Menschen getötet und mehr als 900 verletzt, als vermummte, zivil gekleidete Männer - offenbar getarnte Militärs - das Feuer eröffneten.

»Mindestens«, weil nur jene Opfer gezählt werden, die in ein Krankenhaus eingeliefert wurden. Rettungsdienste und niedergelassene Ärzte reichen indes in der Regel keine Zahlen weiter; dafür haben sie keine Zeit. Zudem werden Tote oft direkt an die Angehörigen übergeben.

Seit Anfang Oktober gehen überall im Land überwiegend junge Iraker auf die Straße. In der Provinz Basra, einer ölreichen Region in Südirak, dauern die Massenproteste indes schon mehr als ein Jahr lang an. Allein in den vergangenen vier Wochen wurden mindestens 250 Menschen getötet. Stets sind es Polizei, Militäreinheiten und Angehörige der »Volksmobilisierungskräfte« (VMK), von denen die Gewalt ausgeht. Bei den VMK handelt es sich um einen Verbund überwiegend schiitischer Milizen. Offiziell stehen die VMK unter dem Oberbefehl von Regierungschef Adil abd al-Mahdi, einem Parteilosen, der seit gut einem Jahr im Amt ist - und wie sein Vorgänger Haider al-Abadi keine Antwort auf die Probleme der Bevölkerung findet.

Jene, die am Dienstag vor der »Grünen Zone« in Bagdad zusammengekommen sind, haben nie ein Leben ohne Krieg, ohne Angst vor Bombenanschlägen, ohne die in Bagdad und anderen Städten grassierende Gewaltvolle Kriminalität erlebt. Die meisten von ihnen haben kaum eine Aussicht, einen Job zu finden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als 20 Prozent. Sie droht durch die US-Sanktionen gegen Iran weiter zu steigen. Wirtschaftlich sind die beider Länder eng miteinander verbunden.

Wer sich verletzt oder erkrankt, kann sich die Zuzahlungen für die Behandlungen entweder nicht leisten oder muss feststellen, dass im Krankenhaus selbst grundlegendes medizinisches Material nicht verfügbar ist. In Basra, wo die Wut schon sehr viel länger anhält, fließt oft nur eine braune Brühe aus den Wasserhähnen, gehören Stromausfälle zum Alltag - trotz des Ressourcenreichtums der Provinz, trotz der jährlichen Milliardenzuwendungen aus den USA und aus Europa.

Denn nach dem Sturz von Präsident Saddam Hussein wurde in Irak schrittweise ein Regierungssystem aufgebaut, dass die Macht zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden aufteilt. Und dass damit ausgesprochen schwerfällig, intransparent und korruptionsanfällig ist. Schon im Sommer 2018 hatte al-Abadi zugesagt, die Infrastruktur rund um Basra zu modernisieren, Deals über den Bau neuer Kraftwerke wurden geschlossen. Doch passiert ist so gut wie nichts.

Und so hat die Öffentlichkeit nun auch kein Vertrauen in die Zusagen al-Mahdis, mehr Geld in das Gesundheits- und Sozialsystem, die Infrastruktur investieren zu wollen. Denn das hatte er schon bei seinem Amtsantritt vor ziemlich genau einem Jahr zugesagt. Er ist dabei - wie jeder normale Iraker - an der Bürokratie und an einem Parlament gescheitert, dessen Abgeordnete Projekte vor allem an ihrem Heimatort sehen wollen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -