Eine frostklirrende Geisterbahnfahrt

Michael Wildenhain hat wieder ein überlebensnotwendiges Jugendbuch veröffentlicht

  • André Dahlmeyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Gute Literatur, also eine Literatur, die es wert ist, gelesen zu werden, muss anstrengen und, ja, weh tun. Der zeitgenösssische deutsche Autor, der am griffigsten in dieses Schema passt, ist der Berliner Michael Wildenhain. Er schreibt sehr kalt. Vergleichbar nur mit dem Frankfurter Ex-Boeing-Piloten und Schriftsteller Jürgen Ploog, auch wenn der anders als Wildenhain experimentell (mit Cut-up-Technik) arbeitet

Ein Wildenhain hält immer, was er verspricht. Es ist unmöglich, sich über die ersten fünfzig Seiten zu schummeln, man muss auf der Hut sein und das bis zum bitteren Ende. Ein apokalypsefreies Unterhaltungsprogramm schriebe sich anders. Wildenhains Bücher konfrontieren. Das ist anstrengend, aber eben notwendig.

Der neue Schmöker »Das schöne Leben und der schnelle Tod« ist mal wieder ein Jugendbuch und soll ab 14 Jahren stubenrein sein. Schnell, oder exakter: früh wird hier gestorben. Wenn wir nach der Lektüre heimlich, still und leise in einen Spiegel unserer Qual schauen, fühlen wir uns um das »schöne Leben« gebracht, gar gefoppt. Denn »schön« lebt in diesem Buch definitiv niemand. »Schön« ist höchstens ein Synonym für irgendwas.

Stattdessen erwartet uns die völlige Überspitzung von Klischees, die Wirklichkeit selbst wird zum Klischee. Schöne neue, alte Jugend. Damit gar nicht erst Fragen aufkommen, leitet Herr Wildenhain das Werk mit einem Zitat von Anthony Burgess aus »Clockwork Orange« ein. Der Weg ist also abgesteckt. Frag’ nicht, wohin. Die Handlung spielt in einer namenlosen deutschen Stadt. Ende der Sommerferien. Gabor, der in einer Computer-Halbwelt vegetiert, ist mit seiner nicht ganz normalen Mutter zugezogen. Als die Schule losgeht, gerät der aus »einfachen« Verhältnissen stammende Mathematik-Fan zwischen die Fronten zweier rivalisierender Schülergruppen, die jeweils von Schach-Junkies befehligt werden.

Rasch wird Gabor auch zum Schach-Junkie. Er findet sich wieder zwischen einem Mozart genannten Moritz und einem Luzius aka Lucian. Beide sind nicht von dieser Welt.

Mozarts bester Freund ist sein Samurai-Schwert, das er auch schon mal effektiv nutzt. Er spricht in Gedichten, gerne rezitiert er Gottfried Benn (der Lieblingsautor von Jürgen Ploog). Mozarts Erzeuger sind stinkreich und er surft auf deren Kreditkarten durch die Gegend. Mit dem Geld besticht er die halbe Klasse, züchtet sich ein Heer von Gefolgsamen. Er ist ein Manipulator. Kauft sich Macht. Schart morbid würdelose Abhängige um sich herum.

Was treibt Wildenhain hier? Ist es die Inszenierung des realen Lebens bis ins Schauspiel hinein? Oder ist das schöne und schnelle Leben nur eine Blaupause eines Videospiels, ein Paralleluniversum, an dessen Ausgang sich alle Wege kreuzen? Die Welt ist eine Bühne, man muss nicht alles verstehen - und tut das ja auch nicht, auch wenn tut von Töten kommt oder zumindest kommen könnte.

Wildenhain stellt seine Protagonisten nicht in Gut und Böse auf - das Leben ist mies. Keine einzige Figur in diesem Buch ist sympathisch. Er schreibt über die Gruppendynamik in Jungsbanden, über Treueschwüre, Ehre, »Freundschaft« und Verrat, Gruppenzwang und Mobbing, Erpressung und Erniedrigung, Schuld und Sühne. Und natürlich über die Rache.

Die Jugendlichen sind brutal und gemein, man kann sie nicht verstehen (und soll das wohl auch nicht). Sie sind Gefühlskranke und zeigen keinerlei Empfindungen - der totale Werteverlust. Blutleere, leerstehende Körper und überdies Nachrichten aus der Welt des Internet-Schweinkrams. Den »schnellen Tod« hätte nur eine allgemeingültige Weisheit verhindern können: »Wer in die Höhe spuckt, dem fällt die Spucke ins Gesicht.«

Fazit: Wildenhain-Bücher sind allesamt empfehlenswert, und - schwierig. In Zeiten der bildschirmgestützten Halluzinierung überlebenswichtig. Amen.

Michael Wildenhain: Das schöne Leben und der schnelle Tod. Fischer/Sauerländer, 240 S., geb., 15 €.

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