Nicht nur die Rentenreform treibt viele Franzosen auf die Straße

Landesweiter Streiktag wird vor allem von Gewerkschaften im Öffentlichen Dienst angeführt

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Der nationale Streik- und Aktionstag in Frankreich an diesem Donnerstag dürfte einer der massivsten seit vielen Jahren werden. Dafür sorgt schon, dass alle großen Gewerkschaften bei der Staatsbahn SNCF zu einem unbefristeten Streik aufgerufen haben und damit den öffentlichen Verkehr im Lande zu voraussichtlich 90 Prozent zum Erliegen bringen werden. Die Streiks und Demonstrationen richten sich vor allem gegen die geplante Rentenreform und vor allem gegen die Vereinheitlichung der Rentenberechnung nach Punkten und die Abschaffung der Sonderregime für bestimmte Berufsgruppen.

Darüber hinaus macht sich mit den Protesten auch viel anderer Unmut über die Wirtschafts- und Sozialpolitik Luft, die von Präsident Emmanuel Macron vorgegeben und von der Regierung unter Premier Edouard Philippe umgesetzt wird. So wird auch bei den Pariser Verkehrsbetrieben RATP, bei der Post, bei den Fluglotsen, in vielen Krankenhäusern, Schulen und Universitäten gestreikt. Jede Berufsgruppe hat über die Ablehnung der Rentenreform hinaus spezifische Forderungen. Es gibt zudem »Trittbrettfahrer« wie den Verband der kleinen und mittleren Spediteure, der mit kurzzeitigen Autobahnblockaden gegen die Anhebung der Mineralölsteuer protestieren will, da sie für nicht wenige Kleinbetriebe das Aus bedeuten könnte.

Landesweit sind mehr als 150 Demonstrationen angekündigt. Die größte führt in Paris vom Gare de l’Est über fünf Kilometer zum Platz der Nation. Sie wurde von einer breiten Front von Gewerkschaften vorbereitet. Dort werden vor allem deren Mitglieder erwartet, aber auch Anhänger linker Parteien und wahrscheinlich sogar eine Anzahl von Gelbwesten. Besondere Herausforderung für die Gewerkschaften ist es, den Demonstrationszug durch eigene Ordnungsdienste und mit Unterstützung der 5000 für diesen Tag zusammengezogenen Polizisten davor zu schützen, dass sich radikale oder autonome Militante unter die friedlichen Demonstranten mischen. Gewerkschafter befürchten, diese könnten durch Angriffe auf die Polizei oder durch Anzünden von Autos und Plündern von Läden entlang der Demonstrationsstrecke die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen und dann womöglich den Aktionstag diskreditieren.

Die breite Gewerkschaftsfront wird von den besonders kämpferischen Gewerkschaften CGT, Force Ouvrière und SUD angeführt, denen sich sogar die sonst eher zurückhaltenden Angestelltengewerkschaften CFE-CGC und CFTC angeschlossen haben. Verweigert sich hingegen die CFDT, die vor wenigen Jahren die CGT als mit inzwischen 800 000 Mitgliedern stärksten Gewerkschaftsbund des Landes abgelöst hat. Doch selbst bei dieser Gewerkschaft, deren Führung die Rentenreform im Prinzip für nötig und richtig hält, ist die Fachgewerkschaft der Eisenbahner ausgeschert und schloss sich unter dem Druck der Basis gegen die eigene Verbandsführung dem Streikaufruf an. Das ist ein Tiefschlag für die Regierung, die auf die CFDT setzt, um sie mit einigen Zugeständnissen auf ihre Seite zu ziehen und womöglich einen »Dominoeffekt« auszulösen, wenn in der Protestfront ein Stein nach dem anderen umfällt. Parallel dazu dürfte die Regierung versuchen, über die Medien die Unzufriedenheit der breiten Masse der Franzosen über die Streikfolgen zu schüren und so einen Keil zwischen Streikende und Bevölkerung zu treiben.

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Wie es in Frankreich Tradition ist, wird der Streik- und Aktionstag vor allem von den Beamten und Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes sowie der Staatsunternehmen getragen. Aus ihren Reihen rekrutieren sich fast ausschließlich die Gewerkschaftsmitglieder. Der Organisationsgrad ist mit nur acht Prozent der Beschäftigten einer der niedrigsten in Europa. Unter all diesen Umständen ist es eher Wunschdenken, wenn einige französische Gewerkschafter, aber mehr noch ausländische Medien von einem Generalstreik sprechen und nur zu gern ein im Chaos versinkendes Frankreich an die Wand malen.

Immer wieder wird in diesem Zusammenhang an den Herbst 1995 erinnert, als ebenfalls gegen Rentenreformpläne protestiert wurde. Die Wirtschaft war landesweit durch einen Eisenbahnerstreik bei der SNCF und das Leben in Paris durch einen Streik bei der RATP für mehr als einen Monat weitgehend paralysiert. Doch aus dieser Erfahrung zog die seinerzeitige Regierung ihre Schlüsse - und verfügte per Gesetz eine Versorgung mit einer Mindestzahl von Zügen und Metros im Berufsverkehr früh und abends.

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