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Physik und Metaphysik

Es lebe die vierte Dimension! Und Dante, Kafka, Bloch, irgendwie! »Solenoid« ist das Opus maximum von Mircea Cartarescu

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 4 Min.

Es geht ums Ganze, und nur das Wahre ist das Ganze. Aber was ist das? Von Mircea Cărtărescu liegt auf Deutsch unter anderem die gewaltige »Orbitor«-Trilogie (2007-14) vor, in der der Autor mit autobiografischen Reminiszenzen die Nachkriegsgeschichte Rumäniens bis zum Untergang des Ceausescu-Regimes erzählt. Mit seinem neuen Roman »Solenoid« will er noch weit mehr.

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Mircea Cartarescu: Solenoid. A. d. Rumän. v. Ernest Wichner. Zsolnay, 912 S., geb., 36 €.

Dabei wird der Leser hart an den Rand des Wahnsinns und der Verständnislosigkeit versetzt - aber ist auch wirklich all das unverständlich, was bloß ich nicht verstehe, wandte schon Nietzsche ein. »Je mehr Details wir sehen«, heißt es bei Cărtărescu, »umso weniger sehen wir, denn Verständnis bedeutet Eindringen des Sinns, dem Verbindung, Verzahnung oder Ineinandergreifen schon bereitet sind, was nur im Kopf dessen tatsächlich lebt, der es erdacht hat.« Verstehen bedeute deshalb stets, »in einen anderen Geist einzudringen (...), aber Terror und unendliche Rätsel entstehen in dem Augenblick, da man beim Betrachten eines Gegenstandes von diesem absorbiert und in einen inhumanen Geist geschleudert wird, völlig verschieden von dem eigenen«. Und dieser Geist sei »zu Wundern ebenso wie zu Absurditäten fähig«, wie auch der Erzähler des Autors Cărtărescu, der »dich nähren und aus gleichermaßen unerfindlichen Gründen zerschmettern kann.«

In einer aberwitzigen Konstruktion führt dieser Erzähler in eine Welt hinein, in der nichts so ist oder auch nur scheint, wie wir es uns als menschliche Lebewesen, die »auf der harten wohlgerundeten Erde« (Marx) wandeln, vorstellen, denn palimpsestartig werden daneben, darunter oder darüber noch zahllose andere Welten vorgeführt - Imaginationen, die der Erzähler auf seinem vielfach beschrittenen »Weg nach innen«, wie er sich mit Novalis ausdrückt, vorfindet, aber auch solche, die er in Träumen und Tagträumen gewinnt.

Die vierte Dimension taucht auf, es gibt Welten hinter dem Spiegel, Wirklichkeiten im Kleinen (die Welt des Ungeziefers, der Milben, Asseln und Insekten) wie im Großen: Das Solenoid ist eine gigantische Maschine mit einem an ein Radio erinnernden Röhrensystem, deren Energie zum Ende hin die »wirkliche Welt« zum endgültigen Einsturz bringt.

Cărtărescus Roman (doch was sagt die Formbezeichnung schon aus?) - ist Science Fiction und Fantasy, visionäre Schau und Traktat zugleich, Zeit- und Entwicklungsroman. Darin überlappen und überkreuzen sich die verschiedenen Gattungen; es ist, als begegneten sich hier die Bilderwelten Emir Kusturicas und Terry Gilliams. Und die entsprechenden literarischen Vorbilder werden dann auch wieder und wieder zitiert - Dante und, vor allem, Kafka.

Dennoch ist die Erzählstruktur des Textes relativ übersichtlich und benennbar: Der Erzähler Efimov kommt 1956 in Bukarest zur Welt, der Stadt, deren ungeheure Tristesse die Einsamkeit und Isolation des Protagonisten nur noch verstärkt; es werden - durchaus chronologisch - einzelne Stationen beschrieben: das merkwürdige Verschwinden des Zwillingsbruders in der Kindheit, ein längerer Aufenthalt in einem Lungensanatorium, Schulerlebnisse, ein Schlüsselerlebnis von 1977, als der Student der Philologie und angehende Schriftsteller bei der Vorstellung eines Textes mit Pauken und Trompeten durchfällt, um danach und bis zum Ende des Romans (irgendwann in den 80er Jahren) als Lehrer sein Auskommen zu fristen.

Das ist aber nur eine von zahllosen Textebenen, die den Roman bestimmen. Nebenher läuft parallel eine poetologische Reflexion, die in eine Kunstschelte (lügenhafter Schein!) übergeht, um demgegenüber ein wahres, authentisches, unkünstlerisches Schreiben - die Selbstreflexion - zu favorisieren, was natürlich wiederum nur ein Spiel, ein performativer Selbstwiderspruch, eine ironische Geste ist.

Den Inhalt von Cărtărescus Opus maximum auch nur andeutungsweise bezeichnen zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit - denn es geht ihm um die Demonstration, das Ausfabulieren eines ganzen Kosmos von (Denk-)Möglichkeiten, um das »In-Möglichkeit-Seiende«, wie es Ernst Bloch genannt hat, mit dem sich Mircea Cărtărescu bestimmt verstanden hätte, zumindest in diesem Punkt.

So streicht schließlich der Rezensent überwältigt wie sprachlos die Segel. Ein verrücktes Buch? Ein Buch zum Verrücktwerden? Jedenfalls ein solches, mit dem sich der Rumäne Cărtărescu in die erste Reihe moderner Klassiker geschrieben hat. Und ich vermag mir vorzustellen, wie Kafka von hinten Cărtărescu anerkennend auf die Schulter klopft.

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