Von der Kita in die Seta

Auf dem diesjährigen Pflegekongress werden neue Konzepte der Seniorenpflege diskutiert

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Zahl der Menschen, die einen Verwandten zu Hause pflegen, steigt rasant. Waren es im Jahr 2017 noch 2,5 Millionen, zählte die Statistik 2018 bereits knapp drei Millionen pflegende Angehörige, derzeit spricht man von 3,2 Millionen. Sie stehen im Zentrum des diesjährigen Pflegekongresses, der diesen Freitag und Samstag in Berlin stattfindet. Neben 1700 Experten aus Praxis, Politik und Wissenschaft werden auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) auf dem Kongress erwartet.

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Eine pflegende Angehörige ist Marie-Luise Müller. Die zierliche Münchnerin hat über 55 Jahre lang Erfahrungen in der Pflege gesammelt. Sie war Krankenschwester, qualifizierte sich zur Gesundheitsmanagerin und Pflegedirektorin, wurde später Präsidentin des Deutschen Pflegerates, dessen Stimme als Interessenvertretung und Dachverband für die Pflegeberufe in der Gesundheitspolitik Gewicht hat. Wo immer es um Pflegekräfte oder die von ihnen zu betreuenden Menschen ging, mischte sich Müller über die Zeiten furchtlos in die Debatte. So forderte sie bereits vor fast 15 Jahren eine Erhöhung der Pflegebeiträge und eine Aufwertung der pflegerischen Tätigkeiten, womit sie den Zorn der Ärzteschaft auf sich zog. Sie warnte vor einer Deprofessionalisierung, wenn man die Ausbildung vernachlässige und unqualifizierte Kräfte in stationären Einrichtungen beschäftige, um die Kosten zu minimieren. Ein Problem, das bis heute nicht gelöst ist. Heute ist die 73-Jährige Ehrenpräsidentin des Pflegerats. Wie um ihrer Vita noch den letzten Zipfel Sachkunde hinzuzufügen, ist sie darüber hinaus seit einem Jahr auch eine »allein betreuende, pflegende Ehefrau im Rentenalter«. So beschreibt sie sich selbst.

Offen und berührend berichtete Müller am Donnerstag vor der Presse in Berlin über ihre persönlichen Erfahrungen bei der Pflege ihres an amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankten Ehemannes. Dabei versagt das motorische Nervensystem, es kommt zu Lähmungen. Oder wie Marie-Luise Müller es ausdrückt: »Er kann die Arme nicht mehr bewegen, aber er hat einen wachen Kopf«. Was macht man, wenn man von morgens bis abends hört, was heute alles nicht mehr geht? Wie stellt man seine Ohren angesichts derartiger Ansagen auf Durchzug? Wie verkraftet man es, wenn die geliebte Person nicht wenigstens für einen Tag in der Woche in eine Tagespflegestätte gehen will, weil da vor allem demente Menschen versammelt sind? Sagt man dem Partner, dass man psychologische Hilfe in Anspruch nimmt, weil man nicht zu den zwei Dritteln der Pflegenden gehören will, die krank werden? Trägt einen die Gemeinsamkeit des miteinander verbrachten Lebens durch solche Tiefen?

Zu den seelischen Belastungen kommen Müller zufolge die organisatorischen Aufgaben. Selbst ihr als profunder Kennerin des Sozialgesetzbuches fällt es häufig schwer, sich im Angebots- und Bürokratiedschungel zurechtzufinden.

So ist denn auch Beratung nicht nur für sie ein zentrales Thema in der Unterstützung pflegender Angehöriger. Krankenkassen wie die AOK wollen diese durch Kurse für Nachbarschaftshelfer qualifizieren, die in die Betreuung bedürftiger Menschen einbezogen und dafür finanziell entschädigt werden sollen. Aus dem Bundesland Hessen berichtet Elimar Brandt von der PflegeZukunfts-Ini-tiative von Unternehmen mit einem »Pflegeguide«. Dieser vermittelt den Kontakt vom pflegenden Angehörigen zum Vorgesetzten, um veränderte Arbeitszeiten oder Zeitkontingente zu besprechen. Ebenfalls aus dieser Initiative kommt der Vorschlag, neben Kitas auch »Setas« einzurichten. Gemeint sind Seniorentagesstätten als nationales, niedrigschwelliges Angebot: »Morgens vor Dienstbeginn den zu Pflegenden zur Seta bringen und nach Dienstschluss wieder abholen zu können, würde eine enorme Entlastung bedeuten.«

Der Freiburger Pflegewissenschaftler Thomas Klie wirbt dafür, bei der Pflege die Rolle der Kommunen zu stärken. Städte, Gemeinden und Landkreise müssten eine zentrale Rolle dabei übernehmen, sagte er dem Evangelischen Pressedienst. Knie hält es für unverantwortlich, einen existenziellen Bereich wie die Pflege allein dem Markt zu überlassen. »Der Wettbewerb hat zwar zu mehr Heimplätzen, aber auch dazu geführt, dass die Bevölkerung Vertrauen verloren hat.« Und dass sie sich Heimplätze oft nicht mehr leisten kann, müsste man hinzufügen. In Berlin gab es 2019 in einigen Einrichtungen Kostensteigerungen von bis zu 600 Euro, die Bewohner zu der von der Pflegekasse gezahlten Summe dazu zahlen müssen.

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