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Zu viele Lippenbekenntnisse

Frauen, Migranten, Arbeiterinnen und Menschen mit Behinderung stehen auch in der Linken eher am Rand. Das soll sich ändern

Die Schar der rund 450 Diskutierenden im Kasseler Kulturbahnhof war bunt. Weiblich, jung und migrantisch waren viele Teilnehmenden der Linke-Strategiekonferenz am Wochenende. Umso bedenklicher, dass die Linke offenbar ein Problem in Sachen gleichberechtigter Beteiligung aller Mitglieder hat. Gerade diejenigen, die materiell besonders benachteiligt und mehrfach diskriminiert sind, haben es schwer in der Partei, die ihre Interessen eigentlich zuvörderst vertreten will. Sie fühlen sich nicht angemessen an Debatten beteiligt. Auf der Konferenz in Kassel tauschten sich in der Partei aktive Menschen mit Einwanderungsgeschichte darüber aus, wie und ob sie ausreichend zu Wort kommen. Viele waren der Meinung: Das ist nicht der Fall. Daphne Weber vom »Feministischen Autorinnenkollektiv« kritisierte, auf dem Podium des Eingangsplenums fehle eine »migrantische Perspektive«. Das empört auch die Bremer Linksfraktionschefin Sofia Leonidakis. Sie gehört zu denen, die jüngst den Zusammenschluss »Links*Kanax« gegründet haben, um dem Übersehen- und Überhörtwerden entgegenzuwirken.

Unzufriedenheit gab es auch unter den Frauen. Denn die Konferenzregie hatte Feminismus offenbar nicht als konstituierendes Element strategischer Überlegungen im Kampf um linke Mehrheiten angesehen und ein Forum zu feministischer Politik abgelehnt. Viele Frauen kamen deshalb am Samstagabend nach vielen Debattenstunden noch zu einem in Eigenregie organisierten Vernetzungstreffen zusammen. »In den Diskussionen heute sind wir überhaupt nicht vorgekommen«, fand eine von ihnen. Auch Daphne Weber ärgert das. Im Gespräch mit »nd« fordert sie, die Linke müsse »maximal inklusiv« sein und zum Beispiel Müttern politisches Engagement unter anderem durch die stärkere zeitliche Begrenzung von Veranstaltungen ermöglichen. Nur ein Drittel der Linke-Mitglieder seien Frauen, sagt Weber. Die 25-Jährige engagiert sich in der Hildesheimer Linken und findet, die Partei müsse »an einer Kultur arbeiten, die alle ernst nimmt«. Sie sieht aber auch Fortschritte, gerade bei jüngeren Männern, die feministische Arbeit unterstützen, »weil sie wissen, dass das auch ihnen nützt«.

Wie die Linke sich besser in der Arbeiterklasse verankern kann, war am Sonntag eines der Themen. Ulrike Eifler, Gewerkschafterin beim DGB Hessen, konstatierte: »Wir reden viel zu häufig über die Arbeiterklasse und zu wenig mit ihr.« Sie mahnte zudem einen regelmäßigen Austausch mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern auf Bundes- und Landesebene an. Ein Gewerkschafter aus Thüringen erinnerte hingegen daran, es bestehe seit Langem das Problem, dass Werktätige häufig gar nicht mehr Arbeiter sein wollen: »Die sehen sich als Mittelschicht!« Thomas Goes von der Bewegungslinken wies bereits am Samstag darauf hin, dass viele Arbeiter nicht aus Protest rechts wählen. Er selbst sei der erste in seiner Familie, der studiert habe, und seine Erfahrung sei: »Viele wählen rechts, weil sie Ausländer nicht mögen, weil sie Homosexuelle nicht mögen, weil sie nach unten treten zu den Hartz-IV-Beziehern.«

Die Lage ist also kompliziert, zumal, da waren sich die meisten einig, weil »die Klasse« heute vielfältiger, weiblicher, migrantischer sei als vor Jahrzehnten. Darüber, dass die Linke für sie Politik machen will, herrschte Konsens. Angesichts dessen, meinte eine Diskutantin, habe sie kein Verständnis, dass nur die Hälfte der Genossinnen und Genossen Mitglied einer Gewerkschaft sei. Parteichef Bernd Riexinger erinnerte daran, dass allein in der Bundesrepublik 40 Millionen Menschen der lohnabhängigen Klasse angehören. Deren gemeinsame Interessen müsse die Linke herausarbeiten, ihre Kämpfe verbinden.

Dass die Linke dennoch viele gesellschaftliche Bereiche wenig im Blick hat, machte Ilja Seifert klar. Der langjährige behindertenpolitische Sprecher der Linken im Bundestag, heute Mitglied des Bundesvorstands, verwies darauf, dass zehn Prozent der Bürger Behinderungen haben: »Sie werden nicht repräsentiert und kommen auch bei der Linken kaum vor.« Seifert erinnerte daran, dass die Nazis den Massenmord an den Juden in ihrem »Euthanasie«-Programm an Menschen mit Behinderungen probten. Heute werde von rechts wieder die Frage nach den »Kosten behinderten Lebens« gestellt, so Seifert.

Nur wenige Rednerinnen und Redner sprachen die mangelnde Präsenz der Partei im ländlichen Raum an. Gerade in Ostdeutschland gibt es hier massive Probleme.

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