Heute bekommst du auf die Fresse!

Ein Dachdecker sagt seinem Krebs den Kampf an

  • Lesedauer: 8 Min.

Aus dem Tagebuch von Johannes Heine: Mi., 5. April. Ab heute schreibe ich Tagebuch. Es ist etwas in mir, Durchmesser ca. 12 cm, was da nicht hingehört. Operation ist notwendig und deshalb Verlegung auf die Chirurgie mit Vorbereitung auf die OP morgen. Maria war da, wir haben ernsthafte und tiefere Gespräche geführt.

Do., 6. April. OP-Tag. Bauchrasur, im Flatterhemd geht’s ab in den OP. Nette Menschen stellen sich vor und dann Licht aus. Als ich zu mir komme, ist Maria da. Irgendjemand will an mein Ohr und Blut haben. Finde ich eine Zumutung und diskutiere. Krankenpfleger erklärt, warum. Dem sage ich, er kann gleich den doofen Katheter mitnehmen. Das Ding brennt wie Feuer und brauchen tu ich den sowieso nicht.

Johannes Heine & Martina Rellin

Sollten wir alle raus aus dem Hamsterrad Stress? Darf ich meinen Arzt mit einer Zweitmeinung konfrontieren? Und trägt eine Motorradtour mit der Tochter zur Heilung bei? Ja und ja und ja - Johannes Heine, 65, Dachdeckermeister und fünffacher Familienvater aus Grimma, lässt sich das eigene Denken nicht nehmen.

Das hat ihm vor elf Jahren zur Zeit seiner Hodenkrebs-Erkrankung sehr geholfen. »Ich möchte anderen Krebspatienten und ihren Angehörigen wie überhaupt Menschen Mut machen - geht das mit meinem Tagebuch?" Das fragte Johannes Heine Martina Rellin, Ex-Chefredakteurin der Zeitschrift »Das Magazin«, und rannte offene Türen ein. Rellin hat einen Riecher für Alltagsthemen. Besonders Männern, die (zu) viel arbeiten, sich wenig um ihre Gesundheit kümmern und ungern über Gefühle sprechen, hat Johannes Heine viel zu sagen … Beide feilen schon jetzt am Masterplan für die Zeit nach Corona: mit welchen Lesungen sie wann wo wieder starten, das reicht von der Stadtbibliothek Magdeburg bis zu Wohnzimmer-Lesungen. Im Gepäck immer dabei: eine ordentliche Dosis Zuversicht für Leserschaft und Publikum.

Johannes Heine & Martina Rellin:
Ein Mann steigt seinem Krebs aufs Dach. Das Mutmach-Tagebuch
Rellin Verlag
380 S., kt., 18,00 €

Fr., 7. April. Nach der durchschwitzten Nacht eine schöne Morgenwäsche vom Pfleger mit eiskaltem Wasser. Man kann ohne Laborwert noch gar nichts sagen. Es kann sich um einen Tumor handeln.

Di., 11. April. Fred und Uwe kommen, wir unterhalten uns. Da geht die Tür auf und Pfarrer Marschner schaut rein. »Ich komme später«, sagt er und macht die Tür wieder zu. Fred fragt, wer das war. Ich sage: »Mein Pfarrer.« Darauf Fred: »Kommt der nicht ein bisschen früh?« Uwe will noch Adresse besorgen für zweiten Arzt, wenn die Diagnose da ist.

Do., 27. April. Nachdem mein Bettnachbar gegen 3 Uhr seine Panzerspiele beendet hatte, konnte ich ruhig schlafen. Bis 5 Uhr. Im Bett habe ich gleich meine Übungen gemacht, tun mir sehr gut, selbst die Übungen zur Stärkung der Bauchmuskulatur. Verbandwechsel war auszuhalten.

Mi., 3. Mai. Das Schreiben des Pathologen aus Wiesbaden sagt eindeutig, dass Non-Hodgkin keinesfalls diagnostiziert werden kann! Was es ist, weiß man noch nicht, nur, dass es sehr selten vorkommt. Diese Nachricht muss ich jetzt erst einmal verkraften. Der Weg war vorgegeben, auch wenn er steinig werden würde, ich war bereit, ihn zu gehen. Was habe ich eigentlich? Mein Feindbild ist schwammig geworden. Man motiviert sich leichter, wenn überall nachlesen kann, dass eine 80-prozentige Heilungschance besteht. Mir haben schon ein wenig die Knie geschlackert! Ich muss meine Motivation ab sofort auf ein neues Fundament stellen. Das Ziel bleibt das gleiche: die Krankheit zu besiegen.

Do., 4. Mai. Erstaunlich gut geschlafen. Ich glaube, dass mein Tagebuch eine gute Möglichkeit ist, meine Probleme zu verarbeiten. Zum Abendbrot kam Maria und wir haben alles besprochen. Der Jahresabschluss ist plus/minus null geschrieben - bei den Preisen kein Wunder. Als ich ihr sagte, dass ich mit dem Gedanken schwanger gehe, die Firma zu liquidieren, war sie sehr erregt, und, wie mir schien, auch erbost.

Di., 9. Mai. Visite. Heute habe ich mich ganz bewusst nicht auf das Bett gelegt, sondern sitze auf dem Bett und arbeite am Computer. So habe ich eine andere Perspektive bei dem Gespräch. Und es hilft was. Außer, dass bei der Stationsärztin dreimal das Telefon klingelt, habe ich mit einer weiteren Ärztin ein gutes Gespräch. Ich zwinge sie einfach, mir zuzuhören und sich mehr Zeit zu nehmen als eingeplant.

Fr., 12. Mai. Nach dem Mittag ein ausführliches Diagnosegespräch mit der Stationsärztin. Ich habe also einen typischen Hodentumor mit Metastasenbildung oder Absiedlungen im Bauch. Das Ganze nennt sich für die Fachwelt pT1 N3 M1 S2 und ist eingestuft Prognose gut. Es wird drei Zyklen Chemotherapie geben und jeweils 22 Tage Pause zwischendurch.

Sa., 13. Mai. Heute Nacht schlecht geschlafen. Ich habe meinen Kampfdress angezogen, das T-Shirt vom Fasching mit der Aufschrift: Siegertypen empfinden ihren Auftritt nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung. Dann kam die Schwester, meinen Port anschließen. Bloß gut, dass ich den schon ein paar Tage hatte, denn sie hat kräftig gedrückt, um ihn zu ertasten. Das wäre auf der frischen OP-Narbe nicht so prickelnd gewesen. Zum Frühstück habe ich noch mal kräftig rein gehauen. In einem Bericht stand: »Mit vollem Magen kotzt es sich leichter.«

Mi., 17. Mai. So, mein Krebs! Nachdem wir heute im Park schon ein ausführliches Gespräch geführt haben, möchte ich dir noch mal ausdrücklich vor der 5. Runde sagen: Heute bekommst du gehörig auf die Fresse! Ab dieser Runde kannst du nicht mehr nach Punkten gewinnen, das weißt du genau, und ein K.O. werde ich zu verhindern wissen. Merke: Ich bin so fit wie vor der ersten Runde.

Do., 25. Mai. Noah hat eine Rotznase, das ist nicht gut. Im Laufe des Tages bekomme ich richtige Angst vor dem Kind. Das ist eine Erfahrung, die ist unglaublich! Zu meinem Enkel hatte ich bei dem letzten Besuch so eine nette Beziehung aufgebaut und ich habe mich wirklich gefreut, als ich erfuhr, dass sie am Wochenende zu Besuch kommen. Und jetzt dieser gezwungene Abstand. Ich bin natürlich nicht gut drauf und das bekommt auch meine Familie mit. Wo soll ich die Kraft für den zweiten Zyklus hernehmen? Ich werde mit Sachen fertig werden müssen, von denen ich jetzt noch keine Ahnung habe. Aber ich will nicht spekulieren - getreu meinem Motto: Über die Lösung von Problemen werden wir dann nachdenken, wenn die Probleme da sind. Ich bin kein Schmuckträger, aber gestern habe ich meinen Ehering aufgesetzt, um mich daran zu erinnern, wer mir die Kraft gibt und für wen es zu kämpfen lohnt - für meine Frau und meine Familie!

Do., 29. Juni. Die Psychologin kam. Zum Anfang habe ich sie ein wenig belächelt, aber jetzt denke ich, dass es schon gut ist, wenn jemand zuhört und einem Mut macht, weiter so seinen Weg zu gehen. Nicht alle werden selbstständig eine Lösung für ihre Situation parat haben. Ja, und wie so oft, wenn man merkt, es ist schon wichtig, hört es auch schon wieder auf. Der Vertrag läuft aus. Hoffentlich führt man das Angebot weiter. Gute Nachricht vom CT: Die Metastasen sind um mindestens die Hälfte zurückgegangen!

Mo., 20. August. Um 4 Uhr sind wir aufgestanden und schon nach 5 Uhr gefahren. In Kassel ging es gleich los mit Aufnahme, Blutkontrolle und Ultraschall. Operation wird sechs Stunden dauern. Das Risiko, dass die Aorta verletzt werden kann, dass die linke Niere geopfert wird, ist kalkulierbar und sollte mich nicht beunruhigen. Die Entfernung der Metastasen und die Untersuchung auf aktive Krebszellen ist absolut wichtig. Zu den Ärzten habe ich volles Vertrauen. Also gehen wir es an, in der Hoffnung, danach wieder ein gesundes Leben führen zu können. Die Erfahrung einer lebensbedrohenden Krankheit wird mich begleiten, aber sie soll mich nicht beherrschen!

Mo., 26. November. Die Nachuntersuchung zeigt, die Krankheit geht weiter! Was ist mit meiner Hoffnung?

Mi., 2. Januar. Fastentag 1, Gewicht 109,9 kg. Ich hatte mir nach dem Begleitbuch zur Krebskur - total nach Breuß einen Tagesplan entwickelt. Ich glaube, ich habe 1 ½ Stunden Tee gekocht. Den Gemüsesaft herzustellen ist sehr aufwendig. Die Zwiebelbrühe schmeckt. Maria erkundigte sich nach meinem Befinden und ob ich Kopfschmerzen hätte. Bis dahin nicht, erst bei ihrer Frage. Ich habe ihr gesagt, sie soll mich behandeln, wie sonst auch.

Di., 22. Januar. Fastentag 21, Bergfest, Gewicht 95,4 kg (-14,4 kg). Ich fühle mich wohl, habe keinen Hunger. Warum hat die Schulmedizin keine offenen Ohren für die Krebskur - total? Kritisiert wird, dass es für den Erfolg der Kur keine unabhängigen Beweise gebe, medizinische Studien fehlten. Es gibt viele Menschen, die sich mit der Fastenkur selbst therapiert haben. Kann nicht sein, was nicht sein darf? Was die Lebensqualität angeht, fühle ich mich um ein Vielfaches besser, als bei den Chemotherapien. Es gibt keinen Pharmakonzern, der Interesse an einer Kur-Studie hätte. Sollte sie Erfolg haben, würde er seiner Grundlage beraubt! Reicht die Macht der Arzneimittelhersteller so weit?

Mi., 13. Februar. Heute das erste Mal wieder etwas gegessen. Zweimal einen halben Apfel. Hat das geschmeckt!

Aus heutiger Sicht kann ich sagen: Jeder ist schon mal mit der Nachricht konfrontiert worden, dass ein Freund oder Bekannter an Krebs erkrankt ist. Mir ging es in solchen Momenten immer so, dass ich überlegte: Wie würde ich damit umgehen, wenn es mich selbst treffen würde? Und jetzt betraf es mich! Kein klarer Gedanke war möglich. Immerhin kam ich auf die Idee: Ich müsste mit jemandem reden, der so eine Situation durchlebt hat. Da fiel mir eine Frau ein, die einen sehr bösen Brustkrebs überstanden hatte. Schon am nächsten Tag saß Ines bei mir am Bett. Betroffene müssen nicht nach Worten suchen, sie sie sind ehrlich zueinander, man sagt, was zu sagen ist, klare Worte eben. »Löse dich von allem«, war Ines’ klare Botschaft. »Wenn du diesen Kampf gewinnen willst, dann kannst du dich nicht noch um andere Probleme kümmern!« Hannes first! Ich zuerst. Firma nein, Stadtrat nein, gesellschaftliche Verpflichtungen nein. Meine Hauptaufgabe bestand ab sofort darin, mich mit mir selbst zu beschäftigen, denn ich wollte meinen Krebs besiegen. Die Zeit nach meiner Krankheit betrachte ich als zusätzlich geschenkte Zeit. Wir alle wissen nicht, wie lange unsere Lebenszeit dauert. Gott sei Dank! Wer aber so dicht an der Grube stand, sollte in Zukunft bewusster leben. Das ist kein Automatismus! Wenn ich nicht aufpasse, kann ich ganz schnell wieder im Hamsterrad verschwinden. Ich glaube, wir Menschen sind so. Es ist schön zu leben, denn Leben bedeutet anfangen, immer in jedem Augenblick.

Johannes Heine & Martina Rellin:
Ein Mann steigt seinem Krebs aufs Dach. Das Mutmach-Tagebuch
Rellin Verlag, 380 S., kt., 18,00 €

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