Stresshormone kann man schmecken

Christoph Höhtker lässt die Puppen auf staatlich verordneten Glücksdrogen tanzen

  • Lesedauer: 7 Min.

Die Gespräche ebbten ab, die Blicke richteten sich zum Tischende, von unten, von der Rue Gérard Arbre, war das wütende Hupen eines Kleinwagens zu hören. »Leute, bevor wir loslegen, schaut euch das bitte mal an.« Chefredakteur Philippe de Meudon verteilte die Blätter. »Nehmt euch bitte die fünf Minuten. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr, was ich mit Marc noch machen soll.« Die Männer und Frauen der Zehn-Uhr-Konferenz machten sich unverzüglich an die Lektüre. Stille erfüllte nun den Raum, während sich unten das Hupen in einen Dauerton verwandelt hatte. Jemand brüllte: »Casse-toi, connard!«

Schlachthof und Ordnung oder Mein letzter Tag als Journalist

Christoph Höhtker

Ein revolutionärer Wirkstoff erobert den europäischen Markt: Marazepam, Markenname Marom. Offiziell ein Angstlöser, in Wirklichkeit ein hochintelligentes Psychopharmakon. Die Lösung für alles, gegen alles. Endgültige, allmächtige, Glück verheißende Arznei. Von der als Prostituierte getarnten Anhängerin einer feministischen Terrorgruppe bis hin zu den erfolgsgierigen Managern multinationaler Konzerne, alle sind der Glücksdroge verfallen.

Mittendrin Joachim A. Gerke, ein Sozialhilfeempfänger mit literarischen Ambitionen - und einem Problem hinsichtlich der täglichen Zufuhr des Medikaments, das ihm sein Hausarzt plötzlich verweigert. Ein Medikament, das inzwischen eine Gesellschaft steuert, die beunruhigend genau nach der unseren klingt. Eine Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Der Soziologe Christoph Höhtker, 1967 in Bielefeld geboren, lebt seit 2004 in Genf und arbeitet dort für eine internationale Organisation. Seine steilen Statements in seinem jüngsten Roman besitzen einen abgebrühten Wortwitz und einen spektakulär höhnischen Geistreichtum. Das ist grotesk und aberwitzig, durchgeknallt und überdreht, verrückt traurig und herzzerreißend komisch, wie Michael Kluger von der »Frankfurter Neuen Presse« schrieb.

Wir erreichen unser Ziel im Morgengrauen. Jean-Luc Bechamet, mein langjähriger Fotograf, stoppt den Wagen, macht noch hinter dem Steuer erste Aufnahmen. Vor uns erstreckt sich ein flaches Tal, darin eingebettet ein ausgedehnter Industrie- und Bürokomplex. Ich nehme eine der Broschüren aus dem Handschuhfach. Auf dem Cover das große Milaut-Zentrum für den Nordwesten, gut eine halbe Stunde nördlich von Nantes. Ein anderer Betrieb, doch exakt identische Komponenten. Ein Ensemble schneeweißer Bauklotze, aus der Ferne fotografiert. Das Milaut-Konzept: saubere, unverdächtig langweilige Gewerbeparkarchitektur, stets etwas abseits liegend, dennoch gut angeschlossen an das Fernstraßennetz. Seit den späten Achtzigerjahren sind in Frankreich insgesamt elf solcher Anlagen entstanden. Ein neuer Tag erwacht über der sanften Landschaft der östlichen Gilotte. Die Luft ist feucht. Es riecht nach Thymian und Heu. Ein Eichenwäldchen, eine taubenetzte Weide, Rinder. Eine ganze Herde. Muskulös, tiefbraun, typisch für diese Region des Südwestens. Die Tiere grasen eng beieinander, manche schauen zu uns herüber. Atemdampf steigt in Schwaden auf, blassorange gefärbt von der über der Hügelkuppe aufgehenden Oktobersonne. »Die stehen da nicht umsonst«, murmelt Jean-Luc. »Die warten auf den Auslöser.« Ich frage mich: Wie viele ihrer Artgenossen haben die wohl schon beobachtet? Auf dem Weg hinunter ins Tal, mit rosa Zungen am Metallgestänge der Transporter, die - wie Milaut immer wieder betont - modernste Tierschutzstandards noch übertreffen. Milaut garantiert maximalen Komfort. Fünf-Sterne-Rinderreisebusse. Jean-Luc macht noch mehr Aufnahmen. Die Tiere rühren sich nicht. Irgendwann werden auch sie ins Tal fahren. Ich hatte erwartet, nervöser zu sein.

Anderthalb Stunden später (nach Croissants und Kaffee im nur wenige Kilometer vom Milaut-Fleischtempel entfernten Dörfchen Moneclair) sitzen wir in einem modern eingerichteten Tagungsraum. Auf dem mindestens fünf Meter langen Tisch hat man eine Auswahl nicht alkoholischer Getränke sowie weitere Milaut-Literatur platziert - säuberlich geschichtete Stapel mit Firmenprospekten, Dossiers, Pressemappen. Eines der Hefte, »Milaut pour la communauté«, informiert über die sozialen Aktivitäten des Unternehmens. Milaut richtet Bibliotheken und Jugendzentren ein, unterstützt Sportvereine, sogar regionale Naturschutzinitiativen. Einmal im Jahr veranstaltet man die französischen Zerlegemeisterschaften, und für die Aktion »Rêve d’enfant«, die sich um die Belange schwerstbehinderter Kinder kümmert, konnten zahlreiche prominente Schirmherren gewonnen werden. Ich lerne: Die 1,4 Millionen Rinder und gut 12 Millionen Schweine, die von Milaut jährlich in die Verwertungsprozesse eingespeist werden, bluten für einen guten Zweck aus.

Der Schlachtpädagoge

Die Tür öffnet sich, ein athletischer Mittvierziger in einem weißen Kittel mit dem dezenten Milaut-Logo kommt auf uns zu. Das muss Patrick Esnèr sein. Mit seinem sonnengegerbten Teint, dem starken Kinn und den fröhlichen Augen erinnert er an den früheren Tour-Sieger Bernard Hinault, und dieser starken, behaarten Hand, die nun nach uns greift, traut man eher Arbeit im Stall als das Begrüßen von Journalisten zu. Man hat mich eindringlich vor den Milaut-Öffentlichkeitsarbeitern gewarnt. Nach schlechten Erfahrungen mit Pariser PR-Spezialisten, so die Legende, setze das Unternehmen mittlerweile auf Männer aus der Praxis. Glaubwürdige Amateure, die ausdrücklich nicht auf jede Frage eine befriedigende, Schmutz

abweisende Antwort parat haben sollen. Wahrscheinlich auch das die Idee von Pariser PR-Spezialisten. Der Mann vor uns ist ein Prototyp des neuen Milaut-Images. Er spricht mit dem kehligen Akzent der Region, sein Vater besaß, wie wir bald erfahren, tatsächlich einen Hof, kaum zwanzig Kilometer entfernt. »Bei uns zu Hause kam der Schlachter zweimal pro Jahr«, berichtet Esnèr, während wir uns aus einer Karaffe mit frisch gepresstem Orangensaft bedienen. »Das klingt vielleicht idyllisch, aber meinem alten Herrn standen jedes Mal die Tränen in den Augen.« Ich erwähne den Transport, den damit verbundenen Stress für die Tiere, gebe zu bedenken, dass zumindest der den Tieren seines Vaters erspart geblieben sei. Esnèr weist auf die extra für Milaut entworfenen Komfort-Lkws hin, die strikten Kontrollen der Spediteure. »Aber vermutlich haben Sie recht«, fügt er dann mit nachdenklichem Gesicht hinzu, »die Rinder meines Vaters hatten es besser.« Jean-Luc und ich schauen uns an. Einen Augenblick sind wir sprachlos. Unterhalten wir uns hier wirklich mit einem kritischen, unabhängig denkenden Angestellten? Nach diesem ersten Höhepunkt vergeht eine Weile mit harmlosen Plaudereien. Patrick erkundigt sich, wie unsere Fahrt verlaufen ist. Er zeigt sich interessiert an Jean-Lucs Ausrüstung. Sein Ton ist jovial, der Raum ist behaglich, die Orangen für den Saft stammen aus biologischem Anbau. Ich stelle fest, dass ich mich wohlfühle. Praktisch gegen meinen Willen habe ich Vertrauen gefasst. Wir sind hier, um die Realität des maschinellen Tötens zu erleben. Wir wollen und wir werden heute das Sterben sehen. Doch es erscheint mir beinahe tröstlich, dies in Begleitung eines so sympathischen Mannes wie Patrick Esnèr zu tun. Apropos, unser Betreuer schaut jetzt auf die Uhr. »Meine Herren, sind Sie bereit?« Er klingt aufmunternd und fürsorglich zugleich. Wir sind bereit. Das hoffe ich zumindest. Nein, wir sind bereit.

Das behagliche Tor zur Hölle

Das Erste, was ich sehe, spüre, selbst rieche, ist ein überwältigendes Weiß. Wir sind weiß, alles ist weiß, Patrick Esnèr geht voran. Zu seinem Milaut-Kittel tragt er jetzt auch weiße Plastikhandschuhe, eine weiße Haube und weiße Schuhüberzüge. Er ist kaum noch von der Umgebung zu unterscheiden. Es ist, als würde allein sein Gesicht durch ein grelles Vakuum schweben, und unwillkürlich suchen meine Augen nach Kontrasten, entdecken am Boden kleine orange Markierungen und Pfeile. Wegweiser für die Tiere? Das Milaut-Schlachtvieh als autarker Verkehrsteilnehmer? Wir gehen durch eine Art Forschungslabor, eine Weltraumstation; das Gefühl, dass die Dinge hier drinnen mit der Welt da draußen nichts zu tun haben, wird überwältigend. Aber natürlich gibt es Verbindungen. Die Laderampen zum Beispiel, oder der Wartepferch, den Patrick uns jetzt zeigen will. Wir steigen Treppen hinauf zu einer Galerie, einem verglasten Laubengang. Der Raum, den wir nun von oben inspizieren, sieht ganz anders aus, regelrecht freundlich: warme Tone, Holz, indirektes Licht. Milaut hat einen gemütlichen, sehr geräumigen, traditionellen Stall nachgebaut. Der Boden ist mit frischem Stroh ausgelegt. Patrick informiert uns über Experimente mit klassischer Musik, mit Vogelgezwitscher. Man sei ständig auf der Suche nach Möglichkeiten, die letzten Minuten, jene Augenblicke, in denen die Tiere bereits Gefahr wittern, so angenehm und stressfrei wie möglich zu gestalten. Und zwar ohne medikamentöse Unterstützung. Wieder Esnèrs entwaffnende Ehrlichkeit, als er einräumt, dass solche Experimente letztlich vor allem im Hinblick auf die Fleischqualität stattfanden. Stresshormone könne man schmecken, fügt er hinzu und deutet dann auf eine große, dennoch dezente, beinahe getarnte Öffnung in einer der Holzwände des Rinderwarteraums: »Da müssen sie durch.« Ich starre die Luke an, möchte sie als Tor zur Hölle begreifen. Als Ansaugstutzen einer schrecklichen Maschine. Doch das gelingt nicht.

Das heißt, es gelingt mir schon, nur erschreckt mich die Vorstellung kaum. Es geschieht etwas anderes mit mir, während Jean-Luc seine Bilder macht. Seine Nikon ist im Dauereinsatz. Immer wieder nimmt er eine Ecke des Pferchs auf, in der das Stroh eine Art Mulde gebildet hat. Dort hat etwas gelegen, das ist offensichtlich. Jean-Luc fragt, was geschieht, wenn ein Rind sich weigert aufzustehen. Falls ein Tier partout keine Lust hat, durch den Schacht ins Nirwana zu spazieren. Auf Patricks Gesicht ist dieses Bernard-Hinault-Lächeln (nach einem Sieg in Alpe d’Huez), die beinahe bubenhafte Fröhlichkeit verschwunden. Gerade deswegen erwarte ich jetzt irgendetwas besonders Ausgeklügeltes von ihm, eine Lösung, die dem letzten Schrei zeitgenössischer Schlachttierpädagogik entspricht. Stattdessen öffnet er einen Metallspind und holt einen schwarzen, gut achtzig Zentimeter langen Stock heraus. »Mit diesem Ding bekommen wir das relativ problemlos hin.« Er deutet auf einen Knopf am Knauf des Stocks. »Keine große Ladung, in etwa wie an einem Weidezaun. Auf keinen Fall schmerzvoll, aber eine deutliche … tja, wie nenne ich das … eine deutliche Aufforderung.«

Christoph Höhtker:
Schlachthof und Ordnung
weissbooks:w, 409 S., geb., 24,00 €

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