Noch immer im Schatten

Velten Schäfer über das deutsche Erinnern an die Rote Armee

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.

Über den früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck konnte und kann man gewiss viel Kritisches sagen. Eines aber ist ihm hoch anzurechnen: Zum 8. Mai 2015, als sich seine Amtszeit allmählich dem Ende näherte, besuchte er das frühere Strafgefangenenlager 326 Senne bei Bielefeld, Hand in Hand mit dem damals 93-jährigen Lev Frankfurt, einem Überlebenden.

Allein an diesem »Schreckensort«, so sagte es damals Gauck, saßen bis 1945 über 300 000 Kriegsgefangene der Roten Armee ein, von denen Zehntausende ihr Leben verloren. Zu einer Zeit, als der Konflikt um die Krim und in der Ostukraine für erhitzte Gemüter sorgte, forderte Gauck als erstes bundesdeutsches Staatsoberhaupt, das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen »aus dem Erinnerungsschatten« zu holen.

Selbst die tödliche Bilanz des Krieges im Osten ist unklar: Fielen sieben oder 13 Millionen Sowjetbürger in Uniform? Wurden 14, 15 oder 20 Millionen Zivilisten ermordet? Weit über drei Millionen kamen allein in deutscher Kriegsgefangenschaft um. Als »Kommunisten« und »Untermenschen« malträtiert, bilden allein diese Kriegsgefangenen die zweitgrößte Opfergruppe des Nazireichs, nach Europas Juden. Gleich diesen wurden viele Sowjetsoldaten auch in Konzentrationslager verschleppt. Der Massenmord mit Zyklon B wurde im Herbst 1941 in Auschwitz an Offizieren und Kommissaren der Roten Armee »erprobt«.

Hat sich jener »Erinnerungsschatten« fünf Jahre später gelichtet? Die Coronakrise enthebt den aktuellen Präsidenten vorläufig der Frage, ob er der Einladung zur Moskauer Siegesparade folgt, die am heutigen 9. Mai geplant war und verschoben wurde. Frank Walter Steinmeier wird, wenn dieser Text erscheint, mit Kanzlerin und weiterer Staatsprominenz an der Berliner »Neuen Wache« einen Kranz niedergelegt haben. Dort, wo schon Preußens Könige ihre Siege feierten. Und wo seit der jüngsten Umwidmung der »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« gedacht wird: am unspezifischsten Erinnerungsort des Landes.

Ist das Corona-Pragmatismus - oder eine Geste? Blitzte dagegen in Gaucks Hinwendung etwas Ostdeutsches auf? Die Erinnerung an die Befreiung ist weiterhin gespalten: Den D-Day feiert das dominante West-Gedächtnis inzwischen fast so, als wär’s ein eigener Sieg gewesen. An Gaucks gefangenen Rotarmisten aber interessiert es, wenn überhaupt etwas, nur der - freilich bestürzende - Umstand, dass Stalin sie oft ein zweites Mal bestrafte.

Als 2014 die Krimkrise zeigte, dass Russland im Osten echte, verwurzelte Sympathie genießt, fiel der Westen aus allen Wolken. Gelten in seiner Erinnerung doch die »Russen« nicht als Befreier, sondern als Besatzer. Als Vergewaltiger - obwohl, pro Kopf gerechnet, US-Truppen nicht weniger Übergriffe begingen. Man denkt an wilde Horden aus dem Osten, die requirierte Villen verwüsteten und »klauten« wie die Raben.

In etwa Letzteres schrieb in seinem Memoiren auch Joachim Gauck. Das war nur drei Jahre vor seinem Amtsantritt. Und dies lässt immerhin eines hoffen: dass es immer möglich sei, am Erinnern zu arbeiten.

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