Corona offenbart »unhaltbare Zustände« in Schlachthöfen

Hofreiter: Mit »ausbeuterischem Geschäftsmodell« muss Schluss sein

  • Peter Wütherich
  • Lesedauer: 4 Min.

Berlin. Die Schlachtindustrie steht wegen der hohen Zahl von Corona-Infektionen unter ihren Mitarbeitern in der Kritik: Politiker und Gewerkschafter forderten am Wochenende schärfere Kontrollen und bessere Arbeitsbedingungen - gerade auch für ausländische Kräfte in Sammelunterkünften, wo die Infektionsgefahr besonders hoch ist. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sprach gegenüber AFP von einem »ausbeuterischen Geschäftsmodell«, mit dem nun »Schuss sein« müsse.

»Corona offenbart die unhaltbaren Zustände in einigen Schlachthöfen«, sagte Hofreiter AFP. »Schon vor der Krise war bekannt, wie mies die Hygiene in vielen Betrieben ist. Das liegt auch an den extrem schlechten Arbeitsbedingungen - von mangelhafter Ausrüstung bis ausbeuterischen Arbeitszeiten.« Ein »zentrales Problem« sei die Unterbringung in »überbelegten, miserablen Unterkünften«.

Nordrhein-Westfalen hatte am Freitag als erstes Bundesland den Notfallmechanismus bei einem gehäuften Auftreten von Coronavirus-Infektionen in Kraft gesetzt. Dort sollen die Corona-Auflagen nun zunächst nicht wie eigentlich geplant gelockert werden. Anlass war das Auftreten zahlreicher Erkrankungen bei Mitarbeitern eines Schlachthofs im Landkreis Coesfeld, die meisten von ihnen stammen aus Osteuropa. Bis Samstag wurden dort 183 Infektionen nachgewiesen.

Nach dem Corona-Ausbruch in einer Fleischfabrik in Coesfeld liegt die Zahl der Neuinfektionen in dem Kreis weiterhin deutlich über der vereinbarten Obergrenze. Laut einer Übersicht des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Sonntag lag der Wert bei rund 85 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner und Woche (Stand 10.5. 00.00 Uhr). Das RKI weist aber darauf hin, dass es unter anderem durch einen Verzug bei Datenübermittlungen zu Diskrepanzen zwischen seinen Angaben und den tatsächlichen lokalen Zahlen kommen kann.

Außer dem Kreis Coesfeld lagen alle anderen Kreise und kreisfreien Städte in Nordrhein-Westfalen deutlich unter dem Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen. Diese Schwelle, ab der neue konsequente Beschränkungen in der Corona-Krise greifen sollen, hatten Bund und Länder am vergangenen Mittwoch vereinbart.

Der Kreis Coesfeld hat in Abstimmung mit der NRW-Landesregierung als Konsequenz bereits einen Großteil der eigentlich von Montag an landesweit geplanten Lockerungen der Corona-Auflagen um eine Woche verschoben. Von 1200 Beschäftigten des betroffenen Fleischbetriebes waren bis Samstagabend 930 getestet worden. Die Zahl der festgestellten positiven Corona-Fälle stieg auf mehr als 190.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) forderte die Bundesländer am Freitag in einem Brief »eindringlich« auf, angesichts der neuen Corona-Fälle den Arbeitsschutz für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und in der Fleischindustrie streng zu kontrollieren, wie Nord- und westdeutscher Rundfunk berichteten. »Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Situation in Sammelunterkünften und beim Personentransport zu legen.« Er verwies auf Berichte über »unhaltbare Zustände beim betrieblichen Infektionsschutz«.

Aus Heils SPD-Fraktion kamen erste Überlegungen zu einer Gesetzesverschärfung. »Wir haben 2017 zusätzliche gesetzliche Standards für die Fleischwirtschaft definiert - wenn das nicht reicht, müssen wir auch gesetzlich nochmal ran«, sagte SPD-Vizefraktionschefin Katja Mast AFP. Es liege auf der Hand, »dass die Wohnverhältnisse der Beschäftigen und das Infektionsgeschehen zusammenhängen«. Das Geschäftsmodell der Schlachtbranche beruhe auf »Fremdarbeitern, die in Sammelunterkünften wohnen«.

Im Jahr 2017 hatte der Bundestag das »Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft« verabschiedet. Es sieht unter anderem vor, dass der Arbeitgeber den oft aus dem Ausland stammenden Mitarbeitern Arbeitsmittel, Schutzkleidung und persönliche Schutzausrüstung zur Verfügung stellen muss.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verwies darauf, dass die Schlachtbranche trotzdem seit Jahren »immer wieder mit miserablen Arbeitsbedingungen« auffalle. »Die Kontrollen in der Schlachtbranche müssen deshalb dringend verschärft werden, und die Finanzkontrolle Schwarzarbeit sollte hier auch verdachtsunabhängig mehr Stichproben machen«, erklärte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel.

Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) wertete die Corona-Fälle als »trauriges Resultat des extremen Preisdrucks beim Fleisch«. Ihr Vizevorsitzender Freddy Adjan erklärte, die Krise mache »deutlich, wie überfällig es ist, auf Stopp zu drücken und den ruinösen Preiskampf beim Fleisch zu beenden«.

Der Vizechef der FDP-Bundestagsfraktion, Michael Theurer, sieht dabei »kein Regelungsdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit«. Wie zuletzt für Nordrhein-Westfalen verfügt, müsse es nun bundesweit in den Schlachthöfen Kontrollen geben. »Die Bundesregierung muss mit den Ländern den Vollzug der Gesetze mittels eines Testkonzepts durchsetzen«, erklärte Theurer. AFP/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -