»Aus Dankbarkeit passiert nichts«

Verdi-Chef Frank Werneke über Wertschätzung und niedrige Gehälter, Streiks in der Altenpflege, Staatsverschuldung und Vermögensabgabe

Alle reden jetzt von der Wertschätzung von Einzelhandelsbeschäftigten, Pflegerinnen und Erzieherinnen. Hilft das Gewerkschaften, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen?

Ich will mich gerne von etwas anderem überzeugen lassen, vielleicht bin ich zu pessimistisch: Aber meine Vermutung ist, dass all das, was jetzt im Brennglas ist - die Finanzierung des Krankenhaussektors, die Arbeitssituation in der Altenpflege, die tariflosen Unternehmen im Einzelhandel, Minijobberinnen und Minijobber, die jetzt ohne Absicherung dastehen, genauso wie Solo-Selbstständige mit geringen Einkommen - sehr schnell wieder in Vergessenheit gerät. Im Übrigen kippt dieses Gefühl der Wertschätzung bei den Beschäftigten auch gerade.

Im Interview

Frank Werneke ist seit September 2019 Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Ines Wallrodt hat mit ihm darüber gesprochen, ob die neue, verbal geäußerte Wertschätzung von Beschäftigten der Gewerkschaft dabei hilft, die Arbeitsbedingungen der Menschen zu verbessern. Und wie er zu der Einschätzung kommt: »Applaus war gestern, jetzt ist wieder der Tritt in den Hintern angesagt.«

Zu Verdi kam der gelernte Verpackungsmittelmechaniker Werneke über die IG Medien bei der großen Gewerkschaftsfusion 2001. Seit Gründung der »Multibranchengewerkschaft«, die derzeit mehr als 1,9 Millionen Mitglieder hat, gehörte er dem Bundesvorstand an, seit 2002 als Vize, zuständig für Finanzen, Selbstständige und Mitgliederentwicklung und den Fachbereich Medien, Kunst und Industrie. Der 53-Jährige ist seit 1982 Mitglied der SPD.

Verdi organisiert Beschäftigte in Branchen wie Einzelhandel, Logistik und Pflege, deren Unternehmen oft keinem Tarifvertrag unterliegen. Branchen mit niedrigen Gehältern, in denen viele Frauen arbeiten, oft in Teilzeit, in denen die Zahl der Minijobber und Soloselbstständigen hoch ist.

In der Coronapandemie wurde deutlich, wie »systemrelevant« insbesondere der Dienstleistungssektor ist. Etwa die Hälfte der Verdi-Mitglieder arbeitet in diesen Bereichen vom Lebensmittel-Einzelhandel bis zum Gesundheitswesen, die nicht vom Lockdown betroffen gewesen sind, für die aber die Frage von Schutzkleidung eine große Rolle spielt. Die andere Hälfte - vom Flugverkehr über Kaufhäuser und Kinos bis zum Tourismus - war zumindest zeitweise stark von den Coronamaßnahmen betroffen. Für viele Beschäftigte geht es hier um die Existenz.

In der Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen wird Werneke in diesem Jahr erstmals für die Gewerkschaftsseite die Verhandlungen führen. Sahen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür bei seiner Wahl im Herbst noch gut aus - die Steuereinnahmen sprudelten -, haben sich die Vorzeichen nun stark verschlechtert. Den Beschäftigten im Dienstleistungssektor stehen harte Auseinandersetzungen bevor.

Weil es zum Beispiel in der Altenpflege eine Hängepartie um die Finanzierung der Sonderprämie für die besonderen Belastungen in der Coronakrise gibt?

Wir - und vor allem die Beschäftigten selbst - haben von Anfang an gesagt: Wertschätzung ist schön und gut, aber Applaus alleine reicht nicht. Dadurch ist die Diskussion über die Prämie als besondere Anerkennung überhaupt erst entstanden. Unterm Strich ist dann aber nicht viel passiert. Ein klein bisschen in Handelsbetrieben - im Wesentlichen Warengutscheine - und die Regelung in der Altenpflege, nach der Beschäftigte in diesem Jahr einen Bonus von 1500 Euro erhalten.

Die neue Wertschätzung bringt also wenig bis nichts, um gute Arbeit durchzusetzen?

Zumindest gibt es keinen Automatismus. Aus Dankbarkeit passiert gar nichts. Natürlich gibt es jetzt ein Momentum, das wir beispielsweise nutzen wollen, um die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege zu skandalisieren und zu sagen: Es muss endlich möglich sein, den Tarifvertrag für allgemeinver-bindlich zu erklären, den wir mit den Trägern im Bereich der freigemeinnützigen Anbieter, die konstruktiv unterwegs sind, ausgehandelt haben. Da ist jetzt noch mehr politischer Druck drauf als schon vor drei, vier Monaten. Klar. Auch die strukturellen Defizite bei der Krankenhausfinanzierung sind jetzt scharf erkennbar. Darauf werden wir in der politischen Auseinandersetzung aufsetzen. Trotzdem gibt es gerade eher den Eindruck: Applaus war gestern, jetzt ist wieder der Tritt in den Hintern angesagt.

Sie meinen die Debatte um Staatsverschuldung, Sozialleistungen und Mindestlohn?

Ich meine die Diskussion in Teilen der Union und bei der Arbeitgebervereinigung BDA, die anstehende Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auszuhebeln. Und ich denke an die Forderung, die geltenden Notfallregelungen zur Arbeitszeit einfach fortzuschreiben, wie es im CSU-Parteitagsbeschluss vom Wochenende steht, als auch im Papier des Wirtschaftsflügels der Union. Das macht mich wirklich wütend. Aufgrund der Coronakrise wurde das Arbeitszeitgesetz ausgehebelt. Dadurch sind Zwölf-Stunden-Schichten, die Reduzierung der Ruhezeit auf neun Stunden, Wochenendarbeit im Bereich Logistik, im Gesundheitswesen und in anderen Bereichen möglich gemacht. Völlig inakzeptabel ist auch die andauernde Aufhebung der Mindestbesetzung in der Pflege durch den Bundesgesundheitsminister.

Faktisch haben sich die Arbeitsbedingungen von vielen Beschäftigten also verschlechtert, Balkon-Applaus hin oder her. Dabei war von Anfang an klar, dass es schwierig werden kann, Verschlechterungen wie kürzere Ruhezeiten wieder zurückzudrehen. Hat sich Verdi überrumpeln lassen?

Für die Anwendung der Notfallregelung im Arbeitszeitgesetz ist keine Rechtsverordnung des Bundes nötig. Diese Karte hatte bereits vorher jedes Bundesland gezogen, übrigens auch die Rot-Grünen und Rot-Rot-Grünen. Danach kam die Arbeitszeitverordnung des Bundes. Im Potpourri der vorhandenen Ausnahmeregelungen ist sie eher eine der besseren. So ist es uns gelungen, diese Verordnung zeitlich zu befristen, sie gilt bis zum 31. Juli. Gesetzlich wäre auch der 31. Dezember möglich gewesen. Wir sagen: Die Freibäder haben wieder geöffnet, die Baumärkte schon lange, aber es sind weiterhin notlagenbedingte Zwölf-Stunden-Schichten möglich. Da stimmt etwas nicht. Sämtliche Notfallregelungen, die Arbeitnehmerrechte beschneiden, müssen spätestens zum Beginn des Sommers außer Kraft gesetzt werden.

Während des Lockdowns waren Gewerkschaften als politische Interessenvertretung präsent, etwa, als es um die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes ging und um die Absicherung von Solo-Selbstständigen. Ist dadurch die Wertschätzung von Verdi als Dienstleistungsgewerkschaft gestiegen?

Die politische Einflussnahme der Gewerkschaften hat gut funktioniert. Zudem ist es uns gelungen, eine ganze Reihe von Tarifverträgen zur Aufstockung des gesetzlichen Kurzarbeitergeldes durchzusetzen, auch in Bereichen, wo ich es nicht erwartet hätte, etwa in der Filmwirtschaft auf 100 Prozent. Es ist nicht alles gelungen, aber vieles.

Und rennen Ihnen die Leute jetzt die Bude ein?

Nein, aber das ist auch nicht überraschend. Wir haben weniger Eintritte. Sind es in einer normalen Woche etwa 2500, sind es jetzt 1600 oder 1700.

Empfinden Sie das als undankbar?

Aus Dankbarkeit wird selten jemand Mitglied. Selbst nach einem supertollen Tarifabschluss haben wir keine signifikant höheren Eintrittszahlen. Mitgliedschaft entsteht durch kontinuierliche Werbung in den Betrieben, etwa wenn es Neueinstellungen gibt. Und wenn irgendwo Action ist - eine Tarif-runde oder eine betriebliche Auseinandersetzung. Während des Lockdowns waren solche größeren Aktivitäten nicht möglich und unsere hauptamtlichen Kolleginnen und Kollegen hatten nur sehr begrenzte Zutrittsmöglichkeiten in den Betrieben und Einrichtungen. Hinzu kommt, dass Kurzarbeit und Homeoffice die Mitgliederwerbung auch nicht gerade begünstigen.

Und die genannten Aktivitäten zur Krisenabsicherung der Beschäftigten sind nicht Anreiz genug, um sich zu organisieren?

Wir haben viel weniger Austritte. Auch da hat sich die Zahl um ungefähr 1000 pro Woche reduziert. Unsere zentrale Botschaft in den ersten Tagen des Lockdowns war: Gewerkschaft ist vielleicht so wichtig wie noch nie. Wir sind für euch da. Das konnten wir einlösen und so Mitglieder binden.

Dann zur Action: Warum kriegen Sie in der Altenpflege die Mobilisierung von Beschäftigten nicht hin, die es in den Krankenhäusern gibt?

Mit dieser Frage habe ich mich in den letzten Wochen, in denen ich sehr oft mit beiden Beschäftigtengruppen zu tun hatte, häufig befasst. Ich glaube, das liegt daran, dass in Kliniken die Patientenbeziehung eine andere ist. Es gibt dort einen professionellen Umgang mit Patientinnen und Patienten, einen Umgang, der zugewandt aber eben in der Regel auch zeitlich befristet ist. In der Lang-zeitpflege von alten oder behinderten Menschen entsteht eine länger anhaltende Bindung an eine Person. Das macht etwas - auch mit Blick auf eine gegebenenfalls notwendige Streikbereitschaft. Man will auf gar keinen Fall den Menschen, den man täglich pflegt, allein lassen. Stattdessen gibt es vielfach die Vorstellung: Es muss doch gesehen werden, von der Politik, der Gesellschaft insgesamt, was ich hier leiste. Deshalb muss es doch auch eine bessere Bezahlung geben. Aber so funktioniert der Kapitalismus nicht. Allein aus Wertschätzung heraus gibt es keine bessere Bezahlung - erst recht nicht im zunehmend ökonomisierten Pflegesystem. Oft geht ohne Streik nichts. In der Altenpflege haben wir es mit zwei Arbeitgeberverbänden zu tun, darunter insbesondere dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), die im Grunde nur dafür existieren, das Zustandekommen von Tarifverträgen zu vereiteln. Das ist die Realität und macht es herausfordernd, Verbesserungen durchzusetzen.

Was sagen Sie Pflegenden? Vergesst euer Berufsethos während eines Streiks?

Wenn wir im Gesundheitswesen streiken, ist das Patientenwohl sichergestellt. Wir haben entsprechende Konzepte und viele Erfahrungen mit Arbeitskämpfen im Gesundheitswesen. Aber machen wir uns nichts vor: Selbst wenn es uns gelingt, eine ganze Kette von Organizing-Projekten und Arbeitskämpfen zu organisieren, würde es ewig dauern, bis wir diese riesige Zahl von Langzeitpflegeeinrichtungen tarifiert bekommen.

Wie dann?

Gerade weil es so viele Anbieter in der Altenpflege gibt, brauchen wir in dieser Branche allgemeinverbindliche Tarifverträge und höhere Gehälter, die für alle Einrichtungen gelten, das haben die Beschäftigten verdient und nur so kann die Attraktivität der Altenpflege gesteigert werden.

Was wird aus den anstehenden Tarifrunden in besser organisierten Bereichen wie dem öffentlichen Dienst? Wie wollen Sie hier angesichts der Verschuldung Lohnzuwächse durchsetzen?

Angesichts der Folgen der Corona-Pandemie ist es vordringlich, die Kommunen nicht ins Bergfreie fallen zu lassen. Die Einnahmen brechen massiv ein, gleichzeitig steigen die Ausgaben aufgrund der Krise etwa für Wohngeld. Wir brauchen jetzt einen Schutzschirm für die Kommunen, übrigens auch aus konjunkturellen Gründen: Sie sind die wichtigsten öffentlichen Auftraggeber. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine Lösung zu den Altschulden. In einigen westdeutschen Regionen in Rheinland-Pfalz, im Saarland oder in Nordrhein-Westfalen sind diese erdrückend. Deswegen halte ich den Vorschlag von Finanzminister Scholz für richtig, dass der Bund und die Länder alte Kredite von überschuldeten Kommunen übernehmen.

Die reichen Länder protestieren und fragen: Was haben die Altschulden mit Corona zu tun?

Würde man nur die aktuellen Einnahmeausfälle ausgleichen, würde Frankfurt geholfen, München, Stuttgart - und zwar mit nennenswerten Beträgen, während Kommunen mit relativ geringen Gewerbesteuereinnahmen, die ohnehin hoch verschuldet sind - Pirmasens, Kaiserslautern, im Saarland - so gut wie nichts bekommen würden. Das wäre eine extreme Ungerechtigkeit. Deshalb ist die Verbindung mit einer Regelung zu den Altschulden richtig.

Verdi fordert wie viele andere ein Konjunkturprogramm …

Wenn ein Konjunkturanschub wirken soll, muss er ungefähr das Volumen von drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts haben, also zwischen 100 und 150 Milliarden Euro, da sind sich eigentlich alle Ökonomen einig, egal, welcher Schule sie angehören.

Wer soll die ganzen Schulden zurückzahlen?

Infolge der Coronakrise wird die Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland steigen, ob auf 85, 90 oder 95 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist derzeit nicht der entscheidende Punkt. Im internationalen Vergleich ist dies immer noch ein niedriger Schuldenstand. Wichtig ist, dass jetzt im finanziell ausreichendem Maß gehandelt wird, insbesondere hinsichtlich eines Investitionsprogramms. Die Refinanzierung der Bundesrepublik auf den Kapitalmärkten ist exzellent. Sicher ist: Es wäre falsch, jetzt in eine Krise hinein zu sparen. Besser ist es, auf Wachstum zu setzen, dann sinkt der Verschuldungsgrad in der Zukunft über die Jahre von allein.

Was ist mit der Einnahmenseite? Stichworte Vermögenssteuer oder Vermögensabgabe wie in den westdeutschen Nachkriegsjahren, was Linke fordern.

Die finanzielle Dimension, die jetzt notwendig ist, ist durch eine Erhöhung der Erbschaftssteuer oder die Vermögenssteuer überhaupt nicht realisierbar. Da stimmen die Proportionen nicht. Ja, wir haben ein ungerechtes Steuersystem, in dem die breite Schicht von Erwerbstätigen zu hoch besteuert wird, und Wohlhabende zu gering. Das stimmt alles und muss sich ändern. Aber dabei geht es um bereits vor Corona bestehende Ungerechtigkeiten im Steuersystem. Mit einer Einführung der Vermögenssteuer den jetzigen Anstieg der Staatsverschuldung zurückdrehen zu wollen, ist Unsinn, die Einnahmen wären viel zu gering.

Aber wäre es nicht gerecht, wenn die Starken mehr von den Coronalasten tragen würden?

Sie sollen mehr Lasten tragen - aber nicht zum Schuldenabbau. Aus meiner Sicht werden hier Diskussionsstränge verquickt. Wenn ich sage: Eine Vermögensabgabe ist unbedingt notwendig, um die Staatsverschuldung zu reduzieren, führt das gedanklich in die Irre. Denn ein höheres Maß an Staatsverschuldung ist vertretbar, es gibt keine Notwendigkeit, diese durch Einsparungen oder Sonderabgaben vorzeitig abzubauen.

Sie brauchen ein gutes Konjunkturpaket auch für die Tarifrunden. Der Hammer mit den klammen öffentlichen Kassen liegt sicher schon bereit.

Wir laufen konjunkturell in eine rezessive Phase hinein. Tarifrunden unter diesen Bedingungen werden natürlich nicht einfacher. Die Lage ist, wie sie ist. Dem stellen wir uns. Auch unter diesen Bedingungen werden wir in den Tarifrunden versuchen herauszuholen, was möglich ist.

Üblicherweise kommen dann eher bescheidene Abschlüsse heraus. Eigentlich wollte Verdi in diesem Jahr im Nahverkehr und im öffentlichen Dienst einen Sprung nach vorn machen. Können das die Beschäftigten nun vergessen?

Über all diese Fragen berät unsere Bundestarifkommission am 3. Juni. Alle Nahverkehrstarife sind zum 1. Juli gekündigt, wir sind ab dann aus der Friedenspflicht raus. Wir werden diesen Umstand zum passenden Zeitpunkt nutzen. Wir sind gut vorbereitet und haben deshalb auch nicht vor, uns selbst zeitlich unter Druck zu setzen.

Im ÖPNV sollte dieses Jahr bundesweit ein Aufbruch gelingen. Die Tarifrunde wurde lange vorbereitet, durch die Klimadebatte war die Wertschätzung für Busse und Bahnen gewachsen. Und nun meiden die Leute öffentliche Verkehrsmittel, aus Angst, sich anzustecken.

Die gewachsene Bedeutung des ÖPNV bleibt erhalten. Auch unterstützen viele Menschen eine ökologische Verkehrswende und das geht nur durch eine Stärkung und einen Ausbau des ÖPNV. Dafür treten wir genauso ein wie für bessere Arbeitsbedingungen und Einkommen in den Verkehrsunternehmen.

Eine Abwrackprämie, wie sie Vertreter des DGB und der Industriegewerkschaften fordern, hilft da wenig.

Wir sind dazu im DGB in der Diskussion - auch die IG Metall fordert übrigens nicht einfach eine Neuauflage der Abwrackprämie aus dem Jahr 2009. Ich sehe das so: Anders als 2009 trifft die jetzige Krise insbesondere private Dienstleistungssektoren wie die Gastronomie, den stationären Einzelhandel, Kulturveranstaltungen, Reisen und Tourismus. Da reden wir über mehrere Millionen Beschäftigte. Deshalb braucht es einen in der Breite dieser Branchen wirkenden Konsumschub. Den kann man unterschiedlich organisieren: Zum Beispiel mit Konsumschecks, die zeitlich befristet einlösbar sind. Denkbar sind auch Extrazahlungen für jedes Kind in Höhe von ungefähr 500 oder 600 Euro, die nicht mit Sozialleistungen verrechnet werden dürfen. Das würde in der Breite wirken.

Haben Sie einen konkreten Alternativvorschlag zur Abwrackprämie?

Unser Vorschlag ist eine Mobilitätsprämie in der Größenordnung der Kosten eines Jahrestickets. Was die Menschen im Rahmen von Mobilität damit machen, entscheiden sie selbst. Entweder sie kaufen sich ein Jahresabo oder eine Bahncard oder verwenden das Geld als Teilfinanzierung für die Anschaffung eines schadstoffarmen Autos.

Beim Kurzarbeitergeld hat Verdi eine Aufstockung auf 90 Prozent gefordert und sich im DGB nicht durchgesetzt. Berücksichtigt der DGB zu wenig die Situation von Beschäftigten im Dienstleistungssektor?

Unsere Position war und ist, wenn Beschäftigte mit niedrigen Einkommen in Kurzarbeit geraten, ist ein Kurzarbeitergeld von mindestens 90 Prozent notwendig, damit die Betroffenen über die Runden kommen können. Einkommensdifferenzierte Regelungen zum Kurzarbeitergeld sind in vielen europäischen Ländern üblich und wir als Verdi schließen regelmäßig entsprechende Tarifverträge ab. Dank der DGB-Gewerkschaften gab es jetzt eine gesetzliche Verbesserung der Kurzarbeiterregelung - allerdings nicht weitreichend genug. Eine bessere Regelung ist nicht am DGB, sondern an den Arbeitgeberverbänden und ihren politischen Verbündeten gescheitert.

Der Comedian und Blogger André Herrmann hat über Twitter zur Debatte über eine Abwrackprämie noch eine andere Idee verbreitet: Wir klatschen um 17 Uhr auf dem Balkon für die Autoindustrie und überweisen die Kohle den Pflegekräften.

Interessanter Vorschlag. Aber auch wenn es langweilig klingt: Man bekommt das Geld nicht überwiesen, sondern man muss es sich erstreiten. Höhere Einkommen, mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege kommen nicht durch Klatschen auf dem Balkon zustande. Gemeinsames Handeln, die Organisierung der eigenen Interessen in der Gewerkschaft, ist der Weg, der erfolgversprechend ist. Alles andere zerplatzt irgendwann wie eine Seifenblase.
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