Von Minneapolis geht ein Flächenbrand aus

Die George-Floyd-Proteste in den USA erinnern an die 60er Jahre, doch manches ist heute anders

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Sonntag ist es schon der sechste Tag der Proteste in Minneapolis. Hunderte Demonstranten besetzen die Interstate-35-Autobahn im Süden der Stadt, sie wollen weiter Druck auf Stadt, Staat und Politik machen, mehr zu tun nach dem Tod von George Floyd. Sie wollen, dass auch Anklage erhoben wird gegen die anderen drei Polizisten, die nicht eingriffen, als ihr Kollege Derek Chauvin den 46-jährigen Schwarzen zu Tode würgte. Doch sie wollen auch grundsätzlich ein Ende der Polizeibrutalität, die immer wieder besonders Minderheiten in den USA trifft, und sie wollen ein Ende von 400 Jahren Rassismus in den USA. Dafür steht die Parole »400 years«.

Was auf der Interstate 35 passiert, passt zur Situation im Land, zur Unsicherheit, zur Ambivalenz, zum Chaos und den Gerüchten. Ein Tanklaster rast in die Menschenmenge, viel zu schnell, kommt erst mitten unter den Protestierenden zum Stehen, wird wütend von diesen attackiert. Die Behörden sagen später, der Fahrer habe vielleicht nicht gesehen, dass die Autobahn geschlossen gewesen sei. Ein Video des Vorfalls von einer Brücke zeigt einen langen Bremsweg des Lasters, aber auch eine hohe Geschwindigkeit noch 100 Meter vor den Protestierenden. Auf sozialen Medien wird der Vorfall schnell als Attacke auf den Protest gesehen, in anderen Städten kommt es zu Schüssen auf Protestierende. Später wird bekannt, dass der Tanklastfahrer 100 Dollar an Donald Trump und die Republikaner gespendet hat. Der Vorfall passt zu Gerüchten über rechte Milizen und »white supremacists«, die sich vorgeblich unter die Protestierenden mischen, um die Gewalt anzuheizen, um den »Bürgerkrieg« zu bekommen, den sie herbeisehnen.

Und er passt zur Situation in Minneapolis, einer Stadt, in der seit Tagen schon nichts mehr normal ist. Es ist eine Stadt, in der tagsüber friedlich demonstriert wird, in der mit Kreide Parolen und Blumen auf die Straße gemalt werden, in der weiße und schwarze Anwohner zusammen die Scherben der letzten Nacht auffegen und in der in mehreren Nächten in Folge Dutzende Gebäude in Brand gesetzt und die Geschäfte ganzer Straßenzüge geplündert werden. Eine Stadt, in der Ladenbesitzer ihre Geschäfte verbarrikadieren, aber Anwohner auch die Gegengewalt der Proteste nicht immer verdammen wollen und Solidaritätsplakate auf ihre verrammelten Geschäfte pinnen, in der ein indischstämmiger Restaurantbesitzer schreibt: »Geschäfte können wieder aufgebaut werden, Menschenleben aber nicht.« Nach mehreren Tagen Ausschreitungen mit geringer Beamtenpräsenz und der Erstürmung einer Polizeiwache Donnerstagnacht beginnen die Ordnungskräfte ab Freitag, langsam die Kontrolle zurückzugewinnen. Die vom Gouverneur von Minnesota mobilisierte Nationalgarde schützt Freitagnacht zunächst die Feuerwehr, als sich Hunderte Demonstranten der vom Bürgermeister verhängten Ausgangssperre widersetzen.

»Wir haben immer wieder gesagt, dass das keine Einzelfälle sind«
Der schwarze Bürgerrechtler Richard Rose fordert ein systematisches Vorgehen gegen Rassismus in Polizei und Justiz in den Vereinigten Staaten

Am Wochenende wird die Polizeipräsenz immer massiver und auch die Gewalt gegen Protestierende, die auch Journalisten zu spüren bekommen. Tränengas und Gummigeschosse werden von den militarisierten Sicherheitskräften immer wieder ohne Vorwarnung eingesetzt. Sonntagabend nimmt die Polizei in Minneapolis, nachdem sie tagelang vor allem Menschenmassen zerstreut hatte, 150 Protestierende fest.

Ähnliche Szenen spielen sich am Wochenende im ganzen Land ab. Rund ein Dutzend Großstädte verhängt Ausgangssperren, teilweise als Reaktion auf Gewalt in der Vornacht, teilweise um Ausschreitungen zu verhindern. Die Ausgangssperren werden von vielen ignoriert. In 140 Städten kommt es zu Protesten, in Solidarität mit dem Getöteten, auch, weil es George Floyds überall gibt, schwarze Männer, die wegen Nichtigkeiten von Polizisten verdächtigt und kontrolliert, gewalttätig angegriffen und erschossen werden. 1099 Menschen wurden 2019 in den USA laut Angaben der Organisation »Mapping Police Violence« von Polizisten getötet. In 99 Prozent der Fälle kam es nicht zu einer Anklage gegen die Beamten.

Die Wut darüber entlädt sich am Wochenende auch mit ausgebrannten Polizeiwagen, umgestürzten Autos, es kommt in mehreren Städten zu Plünderungen und brennenden Geschäften - auch in Washington DC, in unmittelbarer Nähe des Weißen Hauses. Dessen hellweiße Außenbeleuchtung wird am Sonntagabend abgeschaltet.

Unterdessen versucht US-Präsident Donald Trump offenbar, der einstigen Wiederwahlstrategie von Richard Nixon zu kopieren, der 1969 die Vorurteile und die Angst vor Ausschreitungen in der weißen Mehrheitsbevölkerung schürte. Trump beschwor »Law and Order« und droht mit der »vollen Macht des US-Militärs«. Ob die Taktik aufgeht, ist unklar, denn Bilder der Proteste zeigen auch: Anders als bei den »race riots« der 60er Jahre protestieren dieses Mal Weiße Seite an Seite mit Schwarzen.

Die sich überschlagenden Ereignisse zeigen eine widersprüchliche Realität irgendwo zwischen zaghafter Reform oder deeskalierender politischer PR auf der einen und alten Gewohnheiten und einer militarisierten »cop culture« außer Kontrolle auf der anderen Seite, zwischen Alt und Neu: In Orlando kniet der Polizeichef zusammen mit Demonstranten, während seine Polizeibeamten zur selben Zeit hart gegen Demonstranten vorgehen. In New York City wird die Tochter des progressiven Bürgermeisters Bill de Blasio bei Protesten verhaftet. Ihr Vater verteidigt gleichzeitig einen Polizisten, der mit seinem Polizeivan in eine Gruppe Demonstranten fährt. Und es gibt erste Anzeichen eines Kulturwandels: In Atlanta etwa entlässt die schwarze Bürgermeisterin zwei Polizisten wegen übermäßigen Gewalteinsatzes gegen Protestierende. Und in New York erklären mehrere Politiker, die Spenden von Polizeigewerkschaften zurückgeben zu wollen.

Auch in Minnesota gibt es Bewegung: Gouverneur Tim Waltz gibt die Strafverfolgung im Fall George Floyd an den Generalstaatsanwalt des Bundesstaates Keith Ellison ab. Die Familie von George Floyd hatte sich dafür eingesetzt, dass der schwarze Demokrat und Bernie-Sanders-Unterstützer den Fall übernimmt.

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