Alles sein können, aber nur wenig müssen

Best of Menschheit, Folge 23: Weiß sein

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor die hypothetische Wahl gestellt, ein weiteres Menschenleben führen zu dürfen, irgendwann seit dem Zeitalter, das der Eurozentriker Frühe Neuzeit nennt, würde ich es sehr gerne wieder als ein Mensch tun, der als weiß gilt. Denn es ist schon ein verflucht vorteilhaftes Konzept für so einen wie mich, dieser seither alles durchdringende Rassismus. Selbst dann, wenn man ihn voller Überzeugung ablehnt. Schließlich nutzt man weiter die strukturellen Vorteile und darf sich gleichzeitig noch moralisch sauber fühlen.

Aber der Reihe nach: Während sich die ursprünglich durchweg dunkelhäutige Menschenspezies über Hunderttausende Jahre über den Planeten verteilte, evolutionierte sie sich über die Kontinente größere optische Unterschiede zusammen. Diese dürften dann zwar bei ungewohnten Aufeinandertreffen aufgrund der Angst vor oder von Niedertracht gegenüber dem scheinbar gänzlich anderen immer wieder zu Irritationen bis hin zu Gewalt geführt haben, aber um das systematisch nützlich zu machen, brauchte es schon den erstaunlich dreisten und erfolgreichen Welteroberungsdrang der Europäer und die religiös untermalte Verwissenschaftlichung des Blickes auf die Natur.

Ein herrlicher Trick: Erst seinesgleichen zur Spitze der Menschenkultur machen, weil Gott es so will, und dann alle, die man als anders ansieht, zu Tieren, indem man das Zuchtkonzept Rasse vermenschlicht. Mit dem Ergebnis, das bis heute nur diejenigen, die sich weiß fühlen und auch so angesehen werden, sich durchweg als menschliche Individuen fühlen können, während alle anderen zu Repräsentanten einer im Zweifel als minderwertig angesehenen Gruppe werden.

Weiß zu sein, bedeutet, Richter und Henker in einem sein zu können, mindestens uniformiert, aber auch in zivil, weil die rassistische Tat fast ausnahmslos als Folge individueller Verirrung oder Krankheit gedeutet wird und also menschlich verständlich ist. Aber auch all diejenigen Weißen, die nicht (mehr) Henker sein wollen, bleiben Richter. So sehr haben sie verinnerlicht, als komplexes Einzelnes über Kollektive urteilen zu dürfen, dass sie auch in ihrer Solidarität lieber übergriffige Ratschläge erteilen als zuzuhören. So angenehm verschont bleibt der Weiße normalerweise von Pauschalurteilen, dass er bei harscher wie konstruktiver Kritik selbst zum Opfer, dem vermutlich größten, wird.

Dann ruft er irgendwas mit »Rassismus gegen Weiße«, weil das theoretische Ideal, er sähe alle Menschen gleich, dem er praktisch nie zur Verwirklichung verhelfen möchte, enttäuscht wird von denen, die ständig zu spüren bekommen, wie ungleich der Wert eines Menschen tatsächlich bemessen wird. Und das geht nun wirklich nicht, dass ein Hund sich nicht streicheln lassen will, nur weil er kein Hund ist.

Gäbe es Rassismus gegen Weiße, wüssten Weiße, was Rassismus bedeutet, und kämen nicht unbedingt auf die Idee, anderen Diskriminierten hochnäsig in den Umgang mit ihrer Diskriminierung zu pfuschen.

Aber auch das ist so ein Glück der Weißen. Man kann sich alle Ausdrucksformen der Unterdrückten zu eigen machen, von Musik bis Protest, und so das implizite wie explizite schlechte Gewissen beruhigen. Denn der Weiße spürt sehr genau, dass er ohne die Ausbeutung alles angeblich Hautbunteren als seiner selbst nicht ganz so gut lebte. Und er hat eine exklusive Notbremse auf der Fahrt nach unten: Was immer ihm an Leid widerfährt, der vergiftete Trost, es nicht so schlimm erwischt zu haben wie jemand, der das Gleiche erleidet, aber auch noch eine dunklere Hautfarbe hat, liegt griffbereit.

Weiß zu sein, heißt: alles sein können, aber nur ganz wenig müssen. Ich nähme es jederzeit wieder, auch wenn ich nichts dagegen hätte, wenn alle Menschen, gleich welcher Hautfarbe, in denselben Genuss kämen, nichts sein zu müssen, wozu andere sie machen wollen. Großzügig, was?

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