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V-Effekt an den Börsen

Der Dax hat einen wochenlangen irrwitzigen Höhenflug hinter sich. Und was kommt dann?

Unterhält man sich derzeit über bestimmte Aspekte der Coronakrise, hört man zweierlei Dinge fast unisono: Die Pandemie ist weitgehend überstanden, und die Börsen liegen am Boden. Doch wie sieht es tatsächlich aus? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) meldete am Montagabend, mit mehr als 136 000 neuen Coronafällen vor allem in Lateinamerika sei der bisher größte Zuwachs innerhalb eines Tages verzeichnet worden. Und der Deutsche Aktienindex (Dax) hat seit seinen Tiefstständen Mitte März einen irrwitzigen Höhenflug von rund 50 Prozent hinter sich. Selbst Börsenfans sind etwas befremdet. Der Anstieg sei »die meist gehasste Rallye aller Zeiten«, meint Jochen Stanzl vom Online-Broker CMC Markets. Analysten des Portals Index Radar kommentierten ähnliche Entwicklungen an der Wall Street mit den Worten: »Bald kaufen nur noch Spielernaturen.«

Als Mitte Februar die Corona-Pandemie Deutschland erreichte und die Lockdown-Maßnahmen die Wirtschaft lahmlegten, begann zunächst ein Absturz, wie er selbst an den volatilen Börsen selten ist: Vom Rekordstand von 13 800 Punkten sackte der deutsche Leitindex mit den 30 größten börsennotierten Konzernen auf etwa 8450 Punkte ab. Seither ging es spürbar bergauf, am Dienstagnachmittag lag das hiesige Börsenbarometer bei etwa 12 560 Punkten. Schaut man sich den Chart an, sieht es nach einem »V« aus. Die Coronakrise scheint abgehakt.

Doch wie kann das sein, wo doch alle Konjunkturdaten nach wie vor tiefrot sind? Diese Zahlen bilden die jüngere Vergangenheit ab, die Börsenentwicklung jedoch die Erwartungen der Spekulanten für die nähere Zukunft. Offenbar ist der Optimismus groß, dass ein kräftiger Wiederaufschwung nach der tiefen Rezession bevorsteht. Staatliche Hilfsmaßnahmen für die Wirtschaft in vielen Ländern sowie diverse Konjunkturpakete tun ihr Übriges. Ökonomen gehen davon aus, dass spätestens ab Herbst die Konjunktur wieder anspringt. Das gilt auch für die wichtigen Handelspartner, was der exportlastigen deutschen Industrie helfen dürfte.

Worüber sich Anleger ebenfalls freuen: Konzerne nutzen die Krise, um massiv die Kosten zu senken, teilweise über Stellenabbau. Das macht die Unternehmen profitabler. Umgekehrt kommt gut an, dass Kurzarbeit und das Ausbleiben der Pleitewelle dafür sorgen dürften, dass die Massenarbeitslosigkeit nicht zurückkommt.

Es gibt weitere Gründe für den Kursanstieg: Bekanntlich haben die Europäische Zentralbank und weitere große Notenbanken wieder riesige Summen in die Finanzmärkte gepumpt - in der Hoffnung, dass dies in Form von Krediten der Wirtschaft zum Aufschwung verhilft. Das Geld landet aber zu einem Teil auch an den Börsen und treibt die Kurse sozusagen künstlich in die Höhe.

Letzteres ist auch ein Effekt internationaler Kapitalbewegungen. Investoren zogen im Zuge der Coronakrise Gelder aus Entwicklungs- und Schwellenländern ab und brachten es dorthin, wo sie einen »sicheren Hafen« wittern. Im großen Stil wurden etwa deutschen Staatsanleihen gekauft, was den Zinssatz teils auf unter null drückte. Davon profitiert die Bundesregierung, die praktisch für lau ihre Konjunkturpakete finanzieren kann. Geld aus dem Ausland ist aber auch in deutschen Aktien gelandet. Hinzu kommen selbst verstärkende Mechanismen bei einem Kursaufschwung, die der Einsatz Künstlicher Intelligenz mit sich bringt.

Und dann gibt es noch den psychologischen Effekt: Wie bei einem Börsenabsturz alles nur noch schlecht ist, ist bei einem Börsenboom plötzlich alles nur noch gut. Keiner will Gewinne verpassen, sodass letztlich der Kursanstieg die Kurse treibt. Das führt zu nicht nachvollziehbaren Ausschlägen, die US-Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller mal als »irrationalen Überschwang« bezeichnete. Eine solche Blasenbildung endet nicht selten in einem Absturz.

Eine Umfrage unter Fondsmanagern - also denen, die große Summen an den Börsen bewegen - ergab vor wenigen Tagen, dass diese mit Blick auf die Börsen eher pessimistisch sind. Tatsächlich sackte der Dax am Dienstag mal wieder um zwei Prozent ab. Schwer zu sagen, ob die Spekulanten nur verschnauften und ihre Gewinne zählten oder ob sie nun die Unsicherheiten wieder zur Kenntnis nehmen: Wie stark wird der Wiederaufschwung überhaupt? Welche Folgen hat der noch verschärfte Konflikt zwischen den USA und China? Wie kommt die Autoindustrie aus der Strukturwandelkrise? Und wie war das noch mal mit dem Brexit?

Vielleicht wäre zur Abwechslung ein Blick auf die Coronazahlen der WHO hilfreich. An einem Impfstoff gegen den Herdentrieb der Börsianer forscht ja derzeit niemand.

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