Serbien bleibt keine echte Wahl

Macht der Fortschrittspartei baut auf politischem Klientelismus auf. Opposition zersplittert und konzeptlos

  • Roland Zschächner
  • Lesedauer: 5 Min.

Bei den Wahlen in Serbien werden neben den nationalen Abgeordneten der Skupština in Belgrad auch die Volksvertreter in den Regional- und Lokalvertretungen neu bestimmt. Alle Umfragen sehen klare Mehrheiten für die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) von Präsident Aleksandar Vučić voraus. Zweitstärkste Kraft im Parlament mit rund zwölf Prozent wird demnach die Sozialistische Partei (SPS) von Außenminister Ivica Dacic. Allen weiteren Listen werden maximal fünf Prozent vorhergesagt. Die Hürde, um in die 250 Sitze zählende Skupština einzuziehen, wurde von fünf auf drei Prozent gesenkt und für die Parteien der ethnischen Minderheiten faktisch aufgehoben.

Eigentlich sollten die Wahlen am 26. April stattfinden, doch dann durchkreuzte die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus den Plan. Am 15. März wurde in Serbien - am Parlament vorbei - der Notstand ausgerufen. Mithilfe von Polizei und Militär legte man das öffentliche Leben still. Nicht nur rhetorisch wechselte die Regierung in den Kriegsmodus. Sie verhängte tagelange strenge Ausgangssperren, Verstöße wurden hart bestraft. Mit allen Mitteln sollte verhindert werden, dass das zusammengekürzte Gesundheitssystem an seine Grenzen kommt.

Gleichzeitig wurde Corona zur Munition für den Wahlkampf. Obwohl der Präsident nicht durch das Parlament gewählt wird, trägt die SNS-Liste den Namen des Staatschefs, der während der Pandemie neben dem Leiter des Seuchenschutzes in den Medien noch allgegenwärtiger als sonst war. Wie kein zweiter Politiker dominiert Vučić die serbischen Medien, die in den vergangenen Jahren zu Verlautbarungsorganen der Regierenden degradiert wurden. Andere Meinungen finden kaum den Weg in die Öffentlichkeit.

Während der SNS-Herrschaft hat Serbien eine reaktionäre Transformation erlebt. Seit 2012 bereits regiert die Fortschrittspartei. Damals löste sie die Demokratische Partei ab, die versprochen hatte, das Land in die Europäische Union zu führen und die durch die Kriege der 1990er-Jahre zerstörte Wirtschaft wieder anzukurbeln. Ihre neoliberalen Maßnahmen sorgten dafür, dass sich die sozialen Gegensätze weiter vertieften. Damit wurde das Terrain für die 2008 unter anderem von Vučić aus der Taufe gehobene SNS bereitet. Diese versprach, sowohl weiter auf Brüssel zuzugehen als auch die traditionelle Freundschaft mit Russland zu pflegen. Vučić verstand es, auch das »einfache Volk« anzusprechen und sich als Kümmerer darzustellen. Für die Arbeiter gab es auch weiter keine ausreichenden Einkommen, doch zumindest einen schlecht bezahlten Job bei einem der ausländischen Unternehmen, die ins Land geholt wurden.

Serbien gehört in Europa zu den Billiglohnländern - Gehälter von 300 Euro und weniger im Monat sind keine Seltenheit. Internationale Konzerne lockte Belgrad mit Subventionen an. In dem Bestreben, ausländische Direktinvestitionen ins Land zu holen, steht Serbien in einem erbitterten Wettbewerb mit seinen Nachbarn, wo die Arbeitskräfte noch billiger und die Beschäftigen noch rechtloser sind. Ob in der Textilindustrie oder bei Autozulieferern: Gewerkschaften berichten immer wieder über miserable Arbeitsbedingungen, die von den Behörden geduldet werden. Dass dieses System der selbst gewählten Abhängigkeit als verlängerte Werkbank der Multis dazu führt, in globalen Krisen besonders verwundbar zu sein, dürfte ein Grund dafür sein, dass Vučić das Wahlvolk nun rasch an die Urnen ruft. Vor der heraufziehenden Rezession soll die Herrschaft der SNS für die nächsten vier Jahre gesichert werden.

Mehrere Wellen rigoroser Kürzungen auf Druck der westlichen Geldgeber (Internationaler Währungsfonds und Weltbank) hat das Land bereits hinter sich. Die Renten und die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden beschnitten, staatliche Leistungen zurückgefahren und - häufig erfolglos - versucht, Staatsbetriebe zu privatisieren. Vor allem gut ausgebildete junge Menschen haben in den vergangenen Jahren zu Zehntausenden Serbien den Rücken gekehrt.

Die politische Perspektivlosigkeit hat dazu beigetragen: Vučić hat den Staat vereinnahmt, obwohl dem Präsidenten laut Verfassung gegenüber der Regierung eigentlich nur eine untergeordnete Rolle zukommt. Wichtige Posten werden nach Parteibuch vergeben. So entstand ein über Politik, Justiz, Wirtschaft, Medien und bis in die organisierte Kriminalität reichender Filz. So ist es auch zu erklären, dass Vučić-Vertraute trotz handfester Skandale im Amt blieben. Dazu zählt Innenminister Nebojša Stefanović, der in dubiose Waffengeschäfte verwickelt sein soll.

Die starke Position der Fortschrittspartei ist auch auf die Schwäche ihrer Gegner zurückzuführen. Die ehemals regierende Demokratische Partei ist mittlerweile zerfallen; diejenigen, die ihr Erbe beanspruchen, sind untereinander zerstritten. Bestand im Frühjahr unter der buntscheckigen Opposition, die von sozialdemokratischen über liberale bis hin zu klerikal-nationalistischen Kräften reicht, noch Einigkeit darüber, die Wahl zu boykottieren, stehen einige der Verweigerer nun doch auf den Stimmzetteln.

Doch das größte Problem ist, dass keine relevante Kraft Antworten auf die drängenden Probleme des Landes liefert. Auch die Oppositionsparteien hängen neoliberalen Heilsversprechungen an. Zudem versuchen sie, die SNS in nationalistischer Rhetorik - beispielsweise zur Kosovo-Frage - noch zu überbieten.

Wiederkehrende Appelle von Belgrader Liberalen an Brüssel zeugen vor allem von der eigenen Hilflosigkeit. Die EU möchte in Serbien stabile Verhältnisse; westeuropäische Konzerne profitieren davon. Vučić, der die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sein Vorbild nennt, ist dafür ein Garant. Mit ihm bleibt Serbien auch für das deutsche Kapital attraktiv - das weiß auch Merkel zu schätzen.

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