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Zehn Jahre nach der ersten Massenaktion: Von wegen Ende Gelände
Nach spektakulären Erfolgen musste sich das Bündnis neu orientieren
Ende Gelände entstand im Schlaf. »Ich bin morgens aufgestanden, und dann gab es den Vorschlag für den Namen«, erinnert sich die Mitbegründerin und ehemalige Pressesprecherin des Anti-Kohle-Bündnisses, Dorothee Häußermann. Bei »einem Kaltgetränk frühmorgens« hätten ihre Mitstreiter*innen gerätselt, wie sie ihre neue Kampagne nennen wollen. Damals konnte keiner von ihnen wissen, dass Ende Gelände Maßstäbe für Massenaktionen des zivilen Ungehorsams setzen, eine Rolle beim deutschen Kohleausstieg spielen – und auch zehn Jahre nach der ersten Aktion einer der wichtigsten Akteure der Klimagerechtigkeitsbewegung bleiben würde. Angesichts des abnehmenden Interesses für den Klimawandel, staatlicher Repression und dem Aufstieg der »Kollapsbewegung« muss sich das Bündnis heute jedoch umorientieren.
Klimacamps als Ausgangspunkt
Für Häußermann begann alles 2009 mit einem Klimacamp in London während ihres Sabbatjahrs als Lehrerin. Dort wurden ihr die Ausmaße des Klimawandels bewusst. Es war aber auch die Selbstorganisation dieser Camps, die sie faszinierte. »Zu erleben, dass wir alle verantwortlich sind, das war ein totales Aha-Erlebnis.«
Sie stieß zu einer Gruppe, die ab 2010 Klimacamps im Rheinischen Braunkohlerevier organisierte. Kombiniert mit Aktionen des zivilen Ungehorsams, bei denen bewusst legale Grenzen überschritten wurden. Es kam zu ersten Besetzungen des Hambacher Forsts, um eine Erweiterung des Tagebaus Hambach zu verhindern. Kleingruppen blockierten Kohlezüge, brachten Bagger zum Stillstand. Doch diese Aktionen wurden nicht öffentlich beworben und waren dementsprechend nicht besonders groß.
2014 entschied sich eine Gruppe von Aktivist*innen, darunter Häußermann, das zu ändern. Mit Blick auf die Klimakonferenz in Paris COP 21, auf der im Folgejahr das Pariser Abkommen verabschiedet wurde, wollten sie größere Proteste aufziehen. Nicht mehr wie früher, am Ort des Gipfels selbst. Nach den frustrierenden Protesten gegen die Kopenhagener Klimakonferenz war bei vielen Ernüchterung eingekehrt – und die Erkenntnis, dass mit bloßem Appell an die Regierungen »nichts mehr zu holen ist«, erinnert sich Häußermann. Stattdessen der Gedanke: »Wir gehen an die Orte der Zerstörung. Dort, wo die Emissionen entstehen, machen wir unsere Aktionen.«
»Wir machen unsere Aktionen dort, wo die Emissionen entstehen.«
Dorothee Häußermann Aktivistin
Erste Aktion, erste Konfrontation
Am 15. August 2015, vor genau zehn Jahren, war es soweit: Hunderte Aktivist*innen in weißen Maleranzügen zogen, begleitet von Trommelklängen und Sprechchören über Straßen und Felder, ausgestattet mit Strohsäcken, die als Sitzunterlage und Schlagstockschutz dienten. Der Ablauf ist gut dokumentiert, Social Media war längst etabliert und Ende Gelände wusste, sich zu inszenieren.
In einer Unterführung kam es zur Konfrontation mit der Polizei: Ein gutes Dutzend Beamt*innen in Schwarz gegen rund 1000 weiß gekleidete Aktivist*innen. Diesem Druck konnte die Polizeikette nicht standhalten. Ein Moment, so voller Aufregung, dass Häußermann sich nicht mehr genau daran erinnern kann: »Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie wir durch diesen Tunnel gekommen sind«, sagt sie. Doch dann war es geschafft. Über Stoppelfelder bahnte sich die Menschenmenge den Weg zum Tagebau Garzweiler. An der Abbruchkante eröffnet sich der Blick in ein Loch so groß wie die Großstadt Offenbach mit einer Einwohnerzahl von über 130 000. »Es war einfach krass, plötzlich in der Grube zu sein«, erinnert sich Häußermann. »Dass sich so viele Menschen selbstbestimmt und in freien Vereinbarungen organisieren können, ganz ohne institutionelle Struktur, ohne Vorgesetzte«, von diesem Gefühl zehrt Häußermann bis heute.
Die Bilder, die dabei entstanden, werden in die Geschichte der sozialen Bewegungen eingehen: Menschenmassen in weiß vor den grau-braunen Kohlebaggern. Es ist beinahe, als könnten sie sprechen: »Wenn Menschen sich zusammentun, dann können sie alles erreichen, sogar die größten Landfahrzeuge der Welt stoppen«. In den Folgejahren wiederholte Ende Gelände solche Aktionen jährlich, sie wuchsen an, bis auf 6000 Teilnehmer*innen.
Keine neuen Erfindungen, aber ein guter Mix aus Bewährtem
Was machte den Protest von »Ende Gelände« so erfolgreich? Etwas wirklich Neues erfunden haben die Aktivist*innen nicht: Weiße Anzüge trugen schon Atomgegner*innen genau wie in den 1990ern die italienische Protestbewegung Tutte Bianche, die die »weißen Overalls« sogar im Namen trug. Ein parallel stattfindendes Klimacamp als Ausgangspunkt des Protests war seit Jahren ein bewährtes Mittel und bot einen niedrigschwelligen Einstieg sowie die Möglichkeit, für den Einsatz zu trainieren. An den Aktionsvorbereitungen vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 schaute sich »Ende Gelände« ab, wie Linke die leidige Debatte um die Gewaltfreiheit geschickt umschiffen können: Wie die globalisierungskritische Bewegung setzte das Anti-Kohle-Bündnis von Beginn an auf einen klaren »Aktionskonsens«, also auf eine Vereinbarung über das Verhalten während des Protests. Den entscheidenden Satz darin findet Häußermann: »Von uns geht keine Eskalation aus.« So konnte man glaubhaft machen, dass die Aktion friedlich verlaufen wird, ohne das gewaltfreie oder das militante Spektrum zu vergrämen. »Es war nicht alles neu, aber diese Kombination ist bei Ende Gelände ein guter Cocktail gewesen«, meint Häußermann im Rückblick.
Mitentscheidend war wohl auch die fleißige Netzwerkarbeit im Vorhinein. Ende Gelände lud nicht nur die damals große Degrowth-Sommerschule auf das Klimacamp ins Rheinland ein, sondern schaffte es auch, jene erfahrenen Aktivist*innen wieder an den Start zu bringen, die sich nach der Enttäuschung infolge der COP in Kopenhagen zurückgezogen hatten.
Der Politikwissenschaftler Hendrik Sander erwähnt in einem Fachartikel über die Entstehung von »Ende Gelände«, dass es jene »zentralen Aktivist*innen« waren, denen es gelang, viele weitere Bündnispartner*innen und Unterstützer*innen zu gewinnen, zu denen auch eine Reihe namhafter NGOs gehörten, »die erheblich zur öffentlichen Legitimation der Kampagne beitrugen«. Das brachte auch Kontakt zu Journalist*innen ein, was dem Bündnis schon vor der ersten Aktion zu einer großen Öffentlichkeit verhalf.
Sander betont auch das politische Klima der Zeit, welches seiner Ansicht nach ideale Voraussetzung für die Arbeit einer sozialen Bewegung bot. Er spricht von einer »halboffenen« Haltung gegenüber dem Anliegen der Anti-Kohle-Bewegung: Während auf Bundesebene die Kohlefraktion das Sagen hatte, konnten sich im Lokalen die Kohlegegner*innen häufig durchsetzen und den Bau vieler Kraftwerke verhindern.
Fehlende lokale Anbindung
Eine Aktion im Folgejahr brachte Ende Gelände allerdings einen ersten Dämpfer ein. Die Aktivist*innen entschieden sich, den Protest vom rheinischen Kohlerevier in die Lausitz bei Leipzig zu verlagern. Wer nur auf die Zahlen blickt, mag den Protest für einen vollen Erfolg halten: Bis zu 4000 Aktivist*innen störten den Betrieb im Tagebau Welzow-Süd, das Kraftwerk Schwarze Pumpe musste seine Leistung um 20 Prozent drosseln. In der Region – selbst in der dortigen Umweltbewegung – stieß die Protestform jedoch auf Unverständnis. »Wir haben relativ schnell gemerkt, dass denen das unterm Strich egal ist, was wir denken«, sagt ein heimischer Umweltaktivist in der Befragung eines Forschungsteams um den Soziologen Klaus Dörre. »Die hatten ihre Entscheidung gefällt, dass sie das machen wollen, jetzt ging es nur noch darum, uns auf Linie zu bringen. Und das fanden wir gar nicht lustig.«
Im Westen lief es besser. Dort gründete sich das Bündnis »Alle Dörfer bleiben«, in dem sich Klimaaktivist*innen gemeinsam engagierten mit Betroffenen von Zwangsumsiedlungen infolge der Tagebauerweiterungen. Auch Häußermann zog es 2019 in diesen Zusammenschluss, wo sie bis zur Räumung Lützeraths 2023 als Pressesprecherin aktiv war.
Aus ihrer Zeit bei »Ende Gelände« erinnert sie sich heute am liebsten an die Massenaktion im November 2017 am Tagebau Hambach. Zu der Zeit liefen die Jamaika-Sondierungsgespräche. Diese Aktion markierte für Häußermann einen Kipppunkt im Blick auf die Debatte um Kohleverstromung: »Es ging nicht mehr darum, ob es einen Kohleausstieg gibt, sondern wann der Kohleausstieg ist.«
Ende Gelände und der Kohleausstieg
Wissenschaftler*innen des Potsdamer Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit stärken diese Sichtweise. In einer Studie zum Kohleausstieg heißt es, der von »Ende Gelände«, der Besetzung im Hambacher Forst und weiteren Gruppen erzeugte »Druck wurde so groß, dass die deutsche Regierung beschloss, im Rahmen der Koalitionsverhandlungen 2018 die Frage durch die Einrichtung der (…) Kohlekommission zu klären«.
Hauptziel der Kohleblockaden im Herbst 2017 war die COP 23, die gleichzeitig im nahegelegenen Bonn stattfand. An den Protesten beteiligt waren erstmals auch die »Pacific Climate Warriors«, die »Klimakrieger aus dem Pazifik«, vom Klimawandel besonders betroffene Regionen wie Fidschi, Samoa und weiteren Inseln, die bereits mit Überflutungen zu kämpfen haben. »Wir wurden von ihnen zu einer Zeremonie eingeladen, die sie in einem Dorf abhielten, das abgerissen werden sollte«, so Häußermann. »Es war sehr bewegend, die Perspektive von Menschen dabei zu haben, die unmittelbar von der Klimakrise betroffen sind, deren Familien zum Beispiel schon öfter umziehen mussten, weil der Meeresspiegel steigt.« Dass Menschen aus dem globalen Süden in die Aktionen von »Ende Gelände« eingebunden sind, auch das gehört inzwischen zum Standard.
Es änderte allerdings wenig daran, dass das Bündnis, wie der Rest der deutschen Klimagerechtigkeitsbewegung, eine weiß-dominierte Gruppe blieb. Im Jahr 2020 führte das zu einer Intervention von BIPoCs (Black, Indigenous and People of Color). Das hat, so heißt es von Ende Gelände, einen Reflektionsprozess angestoßen, wie der Bewegungsakteur antirassistischer werden kann. Schon im Vorjahr hatte sich das Bestreben nach mehr Inklusivität verstärkt. Ein »bunter Finger«, also einer von mehreren Protestzügen, sollte Menschen im Rollstuhl und mit anderen körperlichen Einschränkungen ermöglichen, zivilen Ungehorsam zu leisten. In den Folgejahren wurde der Name kritisiert, außerdem fühlten sich manche Aktivist*innen auf ihre Behinderung reduziert. Ab dem Jahr 2021 setzte »Ende Gelände« deshalb auf »fingerübergreifende Strukturen zum Abbau von Barrieren in der Aktion«.
Von Kohle zu Gas
Das Jahr markierte zudem wohl den größten Umbruch in der Geschichte von »Ende Gelände«. Das Bündnis richtete sich fortan – der Kohleausstieg wurde 2020 erreicht – gegen den Ausbau der Gasinfrastruktur. An die Teilnehmendenzahlen aus den Anfangsjahren kann Ende Gelände seitdem nicht mehr anknüpfen. Das mag mehrere Gründe haben. Von dem Bündnis selbst heißt es, das habe auch damit zu tun, dass die Bilder, die entstehen, wenn man etwa ein Flüssigerdgas (LNG) Terminal blockiert, nicht so stark seien, wie die von der Besetzung einer Kohlegrube.
Doch natürlich leidet Ende Gelände ebenso wie der Rest der Klimabewegung in Deutschland an dem fehlenden Interesse für die Klimakrise seit der Corona-Pandemie. Erschwerend kommt hinzu: Seit 2020 beobachtet der Berliner Verfassungsschutz die dortige Ortsgruppe, im Jahr 2024 erfolgte dann die bundesweite Einstufung als »linksextremistischer Verdachtsfall«. Das löste zwar eine große Welle der Solidarität aus, ist aber auch Teil der wachsenden Repressionen gegen die Klimabewegung, die die Mobilisierung großer Menschenmengen sicher nicht leichter macht und die Unterstützungsarbeit für Betroffene rechtlicher Maßnahmen wichtiger werden lässt.
Diese Schwächung wird ihren Teil dazu beigetragen haben, dass es bei der bisher letzten größeren Aktion von Ende Gelände gegen ein großes Flüssiggas-Lobbytreffen in Berlin zu einer Zusammenarbeit mit der Letzten Generation kam, zu welcher Ende Gelände ursprünglich ein distanziertes Verhältnis pflegte.
Es war zugleich die erste Aktion, in der Fran Leitner als Pressesprecher*in von Ende Gelände in Erscheinung trat. Seit Leitner als Fridays for Future Aktivist*in mit dabei war, als 2019 bei der bisher größten Massenaktion von Ende Gelände 6000 Menschen in die Kohlegrube des Tagebaus Garzweiler strömten, war für Leitner klar gewesen: »Wenn ich groß bin, möchte ich zu Ende Gelände.«
Politikwissenschaftler Sander schreibt, dass solche Eindrücke, genau wie die gemeinsamen Erfahrungen während des Protests, der Widerstand gegen Konzerne wie RWE und Vattenfall sowie geteilte Symbole und Rituale das Wir-Gefühl stärken und zusammenschweißen. Dieser kollektive Identitätsbildungsprozess sei ein nicht zu unterschätzender Faktor für den langjährigen Erfolg von Ende Gelände.
Mehr als die Massenaktionen
Dazu gehören auch Lernerfahrungen. Leitner betont: »Ende Gelände ist noch viel mehr als die bekannten Massenaktionen.« Das Bündnis sei ein Ort, an dem man inspirierende Menschen treffe und viel dazulerne. Leitner ist dankbar, bei Ende Gelände die Möglichkeit bekommen zu haben, Teil des Presseteams zu werden. Dabei hilft, dass die Aktivist*innen selbst ein Buch zur Pressearbeit herausgebracht haben. Überhaupt ist es »Ende Gelände« selbst, das »Geschichte schreiben« beim Wort nimmt. Im März 2022 erschien ein weiteres – deutlich verspätetes – Buch als Rückblick auf das fünfjährige Bestehen des Bündnisses.
»Die Strategien der Klimabewegung sind in unseren Augen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zielführend.«
Ende Gelände Wuppertal
Und wie geht es weiter? Kurz vor dem zehnten Jahrestag der ersten Aktion lösten sich die Ortsgruppen Wuppertal und Hannover auf. Im Mai gab die Münchener Fraktion ihren Abschied bekannt. »Die Strategien der Klimabewegung sind in unseren Augen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zielführend«, schreibt »Ende Gelände« Wuppertal. Von nun an möchte sich die Gruppe auf »eine Welt im Kollaps« vorbereiten. Ähnlich klingt es bei der Ortsgruppe Hannover. Beide schließen sich also jener Kollapsbewegung an, die gerade bundesweit entsteht und Ende August ein erstes »Kollapscamp« organisiert. Ein Grund zur Sorge für »Ende Gelände«? Dass einzelne Ortsgruppen sich anders ausrichten als das Gesamtbündnis, sei schon immer passiert und habe nie dafür gesorgt, dass Ende Gelände unwichtiger geworden sei. Es brauche beides: den Kampf um jedes Zehntel Grad weniger Erwärmung und die solidarische Vorbereitung auf die kommende Katastrophe. »Das widerspricht sich nicht. Ganz im Gegenteil: als Klimagerechtigkeitsbewegung müssen wir das ganz klar zusammendenken.«
So viel steht fest: Die Entscheidungen der Ortsgruppen, sich aufzulösen, fallen in eine Zeit, in der die Bundesregierung neue Gaskraftwerke im großen Stil plant. »Das ist ein fossiles Rollback, das auf gar keinen Fall passieren darf. Der Kohle-Ausstieg darf nicht zu einem Gas-Einstieg werden«, so Leitner und kündigt an: »Auf die Planungen der Bundesregierung, in den nächsten Jahren massenhaft fossile Gasinfrastruktur auszubauen, wird Ende Gelände im Sommer 2026 mit massenhaftem zivilem Ungehorsam reagieren.« Es ist eben noch nicht Ende Gelände.
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