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Zurück nach Afghanistan: Alle 30 Sekunden ein Kind
Aus dem Iran und Pakistan strömen weiter abgeschobene Geflüchtete nach Afghanistan
Rund zwei Millionen Menschen sind in den vergangenen Monaten nach Afghanistan zurückgekehrt oder besser: vertrieben und deportiert worden. Von Rückkehr kann in den meisten Fällen nicht die Rede sein, da viele der abgeschobenen Afghaninnen und Afghanen im Iran oder in Pakistan geboren und aufgewachsen sind, ihre »Heimat« also nur vom Hörensagen oder aus den Medien kennen.
»Sie sehen nicht aus wie die Leute in Kabul, tragen westliche Kleidung und sind häufig gut ausgebildet«, berichtete kürzlich beim Nachrichtensender Al-Jazeera Arafat Jamal, Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Afghanistan, als er die aus dem Iran deportierten Menschen an der Grenze sah. Freiwillig ist wohl praktisch keiner nach Afghanistan gekommen, in ein Land, das 45 Jahre Krieg gesehen hat, wo die islamistische Taliban-Bewegung wieder die Macht übernommen hat und die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
»Nach vier Jahren Taliban herrscht ein repressives Rechtssystem, das sich nicht nur weit von internationalen Menschenrechtsstandards entfernt, sondern auch fast zwei Jahrzehnte Fortschritt zunichtegemacht hat«, sagt Theresa Bergmann von Amnesty International in Deutschland. Niemand sei in einem solchen System, das einzig auf Angst und Unterdrückung setze, vor Verfolgung sicher. »Jeder Person kann hier Folter drohen.«
Fatma H., die »nd« gegenüber anonym bleiben will, kennt die dramatische Lebenssituation vieler Familien nur zu gut. Sie lebt mit Mann und zwei Töchtern, vier und acht Jahre alt, in der westafghanischen Provinz Herat, nahe der Grenze zum Iran, wo ihr Mann früher gearbeitet hat. Ohne die Unterstützung der deutschen NGO »Help – Hilfe zur Selbsthilfe« wäre die Lage noch schwieriger. Sie erhält Geld, um Lebensmittel zu kaufen, außerdem Hygiene-Sets.
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»Früher war unser Leben ganz anders«, erzählt sie dem »nd«. Heute sei die wirtschaftliche Lage katastrophal: »Es gibt keine Arbeit, die Lebensmittelpreise steigen ständig, und die Mieten sind unbezahlbar.« Besonders hart sei es für alleinstehende Frauen und Familien ohne soziale Netzwerke. Viele müssten ihre Töchter früh verheiraten, um die Miete zahlen zu können.
Ihr Mann hatte zuvor im Iran gearbeitet, ist jetzt aber arbeitslos. Die Familie kann sich kaum noch das Nötigste leisten, »nicht mal Öl oder Fleisch können wir uns kaufen«, erzählt sie. Sie hat miterlebt, wie die aus dem Iran abgeschobenen Geflüchteten in Afghanistan eintrafen. »Viele haben kein Zuhause, keine Familie mehr – sie leben in Zelten, sei es in Herat, Kabul oder auch Mazar-e Scharif.« Trotz allem bleibt sie selbst hoffnungsvoll: »Ich bin wie jeder andere. Ich will einfach nur leben und meine Familie versorgen.« Sie bedankt sich für die Unterstützung, die sie erhält, und hofft auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder.
Doch wie realistisch ist das in einem Land, das vor genau vier Jahren wieder in die Hände der Taliban gefallen ist und seitdem unter den massiven Einschnitten bei der humanitären Versorgung leidet? »Wir sind bereits innerhalb Afghanistans mit einer Vielzahl von Krisen konfrontiert: Wir haben eine Wirtschaftskrise, wir haben Naturkatastrophen und die Auswirkungen des Klimawandels. Es wird erwartet, dass Kabul in den nächsten Jahren kein Wasser mehr haben wird«, sagt Samira Sayed Rahman, die in Kabul als Advocacy Director für die internationale NGO Save the Children Afghanistan arbeitet, dem »nd«.
Und jetzt sind noch zwei Millionen Menschen aus dem Iran und Pakistan gekommen. »Überall, wo es einen Park oder ein freies Grundstück gibt, haben wir informelle Siedlungen von Menschen gesehen, die Zelte aufgestellt haben, weil sie nirgendwo anders hingehen können«, beschreibt Rahman. »Wir sind sehr besorgt darüber, was der Winter für die Kinder Afghanistans bringen wird, insbesondere sehr besorgt um die Kinder, die jetzt aus dem Iran und Pakistan zurückkehren.« Alle 30 Sekunden werde ein Kind aus dem Iran oder Pakistan nach Afghanistan geschickt.
Nach der Kürzung der US-Finanzmittel, die nach Angaben von Hilfsorganisationen mehr als 40 Prozent der gesamten humanitären Finanzmittel für Afghanistan ausmachten, fehlt nun viel Geld. 420 Kliniken im Land wurden geschlossen. »Mindestens 2,4 Milliarden US-Dollar werden benötigt, um den 22 Millionen bedürftigen Afghanen im Jahr 2025 zu helfen«, rechnet der Landesdirektor von Help mit Sitz in Herat, Schafi Schirzad, dem »nd« vor. Daher warnt die Hilfsorganisation vor einer bedrohlichen Zuspitzung der humanitären Krise. Zuletzt hatte Pakistan angekündigt, seine umstrittene Abschiebekampagne von afghanischen Geflüchteten ab September fortzusetzen. Die dritte Abschiebewelle richte sich an 1,3 Millionen Menschen, wie ein Sprecher des Flüchtlingsministeriums der Deutschen Presse-Agentur mitteilte. Personen, deren von den Vereinten Nationen ausgestellte Registrierungsausweise Ende Juni abgelaufen sind und nicht mehr von der Regierung verlängert wurden.
Langfristig plant die Regierung in Islamabad nach eigenen Angaben die Ausweisung von drei Millionen Afghaninnen und Afghanen. Pakistan hatte im November 2023 mit der Massenabschiebung unregistrierter afghanischer Flüchtlinge begonnen. Seit diesem Jahr weist man auch registrierte Menschen aus. Insgesamt haben nach offiziellen Angaben bereits mehr als eine Million Menschen das Land verlassen.
Afghanistan ist hoffnungslos überfordert mit dieser Situation, und trotzdem will die deutsche Bundesregierung Afghanen abschieben, akkreditiert Konsularmitarbeiter für die afghanische Botschaft, damit diese den Papierkram für die Abschiebungsflüge bearbeiten können. Anerkennen wolle man das Taliban-Regime aber dennoch nicht, heißt es immer wieder seitens der Bundesregierung. Noch nicht.
Dabei kann unfreiwilligen Rückkehrern in Afghanistan Haft und Folter drohen, berichtete im Juli die UN-Mission Unama in Kabul. Besonders bedroht seien Journalisten, Aktivisten oder Menschen, die in Verbindung mit der alten, vom Westen gestützten Regierung stünden. Unama warnt in dem Bericht, der auf Interviews mit 49 unfreiwillig nach Afghanistan abgeschobenen Personen im Jahr 2024 basiert, vor einem Risiko für bestimmte Personengruppen. Ehemalige Sicherheitskräfte und Mitarbeiter der alten Regierung sagten demnach aus, dass sie seit ihrer unfreiwilligen Rückkehr untertauchen mussten oder aus Angst vor Verfolgung ständig ihren Wohnsitz wechselten. Andere sprachen laut Unama von Drohungen, willkürlichen Festnahmen und Folter in Haft. Sieht so ein sicheres Herkunftsland aus?
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International macht sich besonders für die sogenannten Ortskräfte stark. Theresa Bergmann: »Innenminister Dobrindt und Außenminister Wadephul müssen dafür sorgen, dass alle Afghan*innen mit Aufnahmezusage für Deutschland umgehend mit Visa ausgestattet werden und schnellstmöglich einreisen können. Dass die Bundesregierung endlich handeln muss und sie sich andernfalls rechtswidrig verhält, haben mittlerweile mehrere Gerichte festgestellt.«
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