Fahr zur Hölle, Jonny!
Im Pintenhimmel: Sehnsucht nach der Südsee
Vor zweimal vierundzwanzig Stunden war ich als blinder Passagier der »Rouen« an Land geklettert. Stowaway, sagen wir dazu. Wir Schwarzfahrer vom Fach. Drei Glas Bier, einen Kognak und eine Budikerboulette hatte ich im Magen. Höllensakrament, verdammt nicht viel! In meiner Tasche steckte noch eine runde Mark. Sie lag so einsam, daß sie nicht einmal klimpern konnte. Diese Mark hatte ich von einer weichherzigen, netten, jungen Dame, die mir glaubte, daß ich sehr arm sei und seit drei Wochen keinen warmen Löffelstiel auf der Zunge gefühlt hatte. Ich glaube sie nicht belogen zu haben.
Mit sonnengelbem holländischem Dobbelmann stopfte ich meine Tabakspfeife. Ein Kraut mit Aroma, kann man wohl sagen. Die Seeleute paffen es auf den Kästen. Am Nachmittag hatte ich im Freihafen von einem Neger eine ganze Handvoll für zwanzig Pfennige ergattert. Wirklich gut war der Tabak. Wie überhaupt alles gut war zu jener Stunde. Denn wir saßen zu fünft um einen runden Holztisch.
»Fahr zu Hölle, Jonny!« - erschienen 1936 in der Büchergilde Gutenberg (Zürich) - beginnt in einer Hamburger Hafenkneipe. Ted schmeißt eine Runde und freundet sich mit Deetje an, Hannes, den alle Jonny nennen, mit Lisa. An der Wand steht auf einem Schild zu lesen: »Nur Lumpen pumpen, Wer betrügt, fliegt!« Die Stimmung ist rauh, alkoholgesättigt, mal rührselig, mal handgreiflich. Jonny darf in Teds Kellerwohnung übernachten, aber der Affe in Deetjes Wohnung rupft dem sprücheklopfenden Papagei alle Federn, woraufhin Ted einen Wutanfall bekommt und Jonny auffordert, zur Hölle zu gehen.
Es beginnt ein Leben auf der Straße. Als Vagabund zieht Jonny durch halb Europa, es folgen Stationen in Mittel- und Südamerika, dann die Rückkehr und ein elendes Leben als Bettler unter Bettlern in Genua …
Jonny G. Rieger wurde 1908 in Berlin geboren und starb 1985 in Dänemark. Nach dem Studium an der Kunstgewerbeschule Berlin verließ er Deutschland und lebte ein Leben als Vagabund auf drei Kontinenten. Zu seinen bekanntesten Werken gehört »Ein Balkon über dem Lago Maggiore« aus dem Jahr 1957. Rieger war Mitglied der Bruderschaft der Vagabunden um Gregor Gog.
»Jung war er, anfangs der Zwanziger; dreimal waren wir uns seither begegnet. Die gierigen Augen sagten: ›Ich fress dich.‹ Aber das war nicht so schlimm gemeint.
Der da ein- und zweimal vor mir sass, konnte noch lachen wie ein Junge. In der Rocktasche trug er, statt Brot, Gedichte. Worte und Sätze standen da, die wie helle Hammerschläge an ein verriegeltes Tor klopften: ›Aufgemacht!«
Gregor Gog, Gründer der Bruderschaft der Vagabunden
Zu fünft brüllten wir: »Prost!«
Hoben die klingenden Gläser. Bogen die Köpfe zurück. Jagten das Bier durch die gluckernden Kehlen. Starrten sekundenlang mit leeren Augen zu den geschwärzten Stuckschnörkeln der Kneipendecke. »Cap Horn« hieß der Laden. Lag in St. Pauli. »Hamburg ist ein schönes Städtchen …« wimmerte das geschundene Klavier.
Sieben steinerne Stufen führten hinauf ins »Cap Horn«. Glitschig von Nebel und Regenmatsch. An der Seite eine verbogene Eisenstange. Ein Geländer. Betrunkene Kerle hatten ihre tierischen Kräfte daran versucht. Die Seeleute mußten aufpassen, wenn sie voll herausgestampft kamen. Manche vergaßen es. Sie schlitterten alle sieben Stufen auf einmal runter. »Satanshure!« bellten sie dann die kleine Treppe an und rieben sich den Hintern.
Für einige Minuten öffnete der Wirt die Tür. Mit dem Geschrei drang eine schwere Wolke von giftigem Dunst auf die Straße. Der eine kleine Ventilator konnte es nicht schaffen. Er mühte sich vergebens. Seine Fächeleien waren widersinnig.
Klick-klack, machten die fünf Gläser, als sie wieder zusammenstießen. Deetje kreischte vor Vergnügen. Ted gröhlte aus Leibeskräften den ewigen Refrain eines Gassenhauers. Hannes lag halb auf Lisa. Ich hielt fünf Finger, gespreizte Finger, in die Höhe gestreckt. Wie eine Gabel stachen sie in den Tabaksqualm, der alles einnebelte. Das hieß: Fünf Glas Bier! Kein Wort war zu verstehen. Wenn das Klavier ratterte, fielen die eigenen Worte sinnlos von den Lippen unter den Tisch. Denn das ganze »Cap Horn« sang mit. Und was die singen nannten. Eine Wüste voll Löwen hätte vor dem Geheul die Schwänze eingezogen.
Schweigend registrierte der Wirt die fünf erhobenen Finger. Er zwinkerte nur leicht mit dem wässrigen linken Auge. Das rechte war schön und groß. Es blickte immer starr und unheilvoll geradeaus. Es war aus Glas. Das rechte Auge hatte unter der Faust eines Irländers geendet, der sich um zwei Glas Bier betrogen fühlte. Jeder wußte das. Jeder kannte Orje, den Kneipen-Boß vom »Cap Horn«. Die ihn nicht kannten, taten so als ob.
Als Geschirrwäscher hatte er angefangen. Fünfzig Pfennig für die Stunde. Auf die Amerika-Linie geheuert. Drüben ausgestiegen, weggelaufen. Rumgetrieben. In New York und Philadelphia Gläser gespült, Pißeimer durch Hotels geschwenkt, fleißig den Rücken krumm gemacht, Servierkellner geworden. Heute wuschen drei Mädchen für ihn Gläser und Teller. Sie bekamen nur fünfunddreißig Pfennig pro Stunde. Weil sie jung waren und nach Feierabend bei den Gästen noch Chancen haben konnten. Außerdem durften sie die Reste in der Küche verzehren. Patsch! - pflanzte Orje die fünf Gläser auf den Tisch. Die Bierpfützen sprinten auseinander. Seine Hand wischte er an der blauen Schürze entlang.
»Ach ja, - hier wird gleich berappt«, schneuzte sich Ted. »Raus damit!« ermunterte ich ihn.
»Heute haben wir Geld, Orje!« strahlte Deetje den Wirt an, um Orjes Herz für künftige, schmale Abende milder zu stimmen.
Aber Orjes Herz war ein Zementklotz. Was ging es Orje an, wenn einer kein Geld besaß. Rausgeschmissen hätte er ihn. Mit den eigenen, qualligen Händen. Über der Theke drohte ein großes Schild in klassischer Schlichtheit:
Nur Lumpen pumpen!
Wer betrügt, fliegt!
Das ist die Lyrik des Hafenvolkes. Der einfachste Mann in »Cap Horn« begriff das.
Ted hatte einen fettigen Schein in Orjes Pranke geklemmt. Orje wechselte sachlich und genau. Seine kalte, halbgerauchte Zigarre ließ er von einem Mundwinkel in den andern rollen. Er war geizig. Rauchte prinzipiell nur geschenkte Zigarren. Und die nur halb, um den Rest zu sparen. Die Seeleute schmissen das Geld auf den Tisch. Sie sparten nicht. Sie kamen zu nichts. Und doch beneidete sie Orje heimlich: »Sie haben wenigstens stundenlang einen großen Zug im Leben. Ich kratze nur immer zusammen. Bin auch nicht glücklich. Sauvolk!« Das Geld klimperte durch seine klebrigen Finger. Runde, schmierige Münzen. Blinkten matt und stumpf. Vom Dreck jahrelang nicht umgekehrter Hosentaschen und vom Schweiß zahlloser Hände.
Der Wirt dankte nicht. Er verachtete seine Gäste. Er stand über ihnen. Sie kamen zu Orje, dem lausigen Tellerwäscher Orje, um Bier zu kaufen. Wenn sie kein Geld mehr hatten, mußten sie Teller waschen. Für fünfunddreißig Pfennige. Versteht sich. Er war nicht mehr ihr Diener. Er hatte es nicht mehr nötig, bekotzte Klosettbrillen zu reinigen. Er war der Gott in der blauen Schürze, der ungestraft an dem blanken Hahn drehen durfte. An dem stählernen, vernickelten Schwanenhals auf der Theke, aus dem unaufhörlich das gelbe Gesöff strömte. Ein Märchen für die Seeleute. Sie begriffen es nie. Sie hielten den Kneipen-Boß für einen Wohltäter der Menschheit. »Schnaps auf den Tisch!« wollte Ted wissen.
Ted zahlte heute. Ted zahlte alles. Ted hatte die Taschen voll. Viele Monate Heuer im Sack. Er schwitzte vor Aufregung: »Schnaps auf den Tisch!«
Viele Monate geschuftet. Wie ein Vieh. Hol’s der Teufel! Auf der »Mariposa«. Große Fahrt. Australien-Route. Das waren zehntausende Seemeilen, Tropenfieber, Eiswasser, ein gebrochenes Nasenbein, unzählige fluchbeladene Wachen, und ein halbes Hundert Kneipen, verstreut in den Häfen rund um den halben Erdball.
»Endlich …« seufzte Ted erleichtert, als der Wirt die Schnapsgläser auf den Tisch baute. Hannes ließ Lisa los. Griff gierig sein Glas. »Alle Mann auf Deck!« jubelte er. Fünf angekippte Gläser. Fünf halbgeöffnete Münder. Das Tacken der leeren Gläser auf der Tischplatte. Ted fuhr sich mit dem Handrücken über die rissigen Lippen. Er umarmte Deetje. Nannte sie seine Braut. Als er sie küssen wollte, wich sie kichernd zurück. Sein Mund landete auf ihrem Kinn. Suchte gierig ihre knalligen Lippen. Aber er dachte an die Braune in Singapore. Deetje hatte Sommersprossen. Mit ungeheurer Deutlichkeit sah er das plötzlich. Das Weiß ihrer Haut bekam für Ted die fremde Kühle frischer Bettlaken. Die Braune aus Singapore war ein Vesuv dagegen. Ein glutender Vulkan. Sie roch nicht nach billiger Rosen-Essenz. Aus ihren Poren strömte der würzige Duft der Zimt-Inseln. Selbst ihr Haar lebte. Ein wirres, eigensinniges Leben. Starrte und ringelte um den Kopf. Schwarz und schwer wie Ebenholz. Aufreizend, wie nächtliche Schreie. Auf einer bunten Strohmatte haben sie sich gewälzt. Einen Ohrring hat er ihr dabei ausgerissen. Aus Versehen. Tiefrotes, schweres Blut quoll aus der Wunde. Sie bemerkten es erst, als sich rote Flecken auf ihre ringenden Körper zeichneten. Feuchtheiß und klebrig. Einen Moment sah Ted zwei Reihen Spider, kleiner Zähne. Ein wütendes Fauchen. Wie ein Tier sprang sie ihn an. Mit eng zusammengekniffenen Augen. Wieder rollten sie über die Matte. In seinem Arm hatte sie sich verbissen. Er schüttelte sie ab. Sie lachte …
Das kann ein Mann nicht vergessen, der aus den Ländern des Nordens kommt. Das schwerfällige Blut seiner Rasse beginnt zu dampfen. Seine Sinne geraten durcheinander. Es verwirrt ihn.
Mit wunderlichen Augen starrte Ted auf Deetje. Eine enge, schmutzige Bambushütte in Singapore sah er eigentlich. Dann riß er sich los. Von seinen Träumen und von Deetje. Erschrocken vor sich selbst.
»Bist wohl besoffen!« empörte sich Deetje.
Aber kein Mann im »Cap Horn« war so furchtbar nüchtern wie Ted in diesem Moment. Er sah Deetje in blendender Schärfe: Ihr Gesicht, wie in fließendes Metall gesponnen. Weißglimmerndes Platin, ihre Haare. Eine eisige, flimmernde Pracht. Wie die großen Sterne starrer Winternächte, wenn klingende Kälte an die niedrige friesische Fischerhütte herankroch, in der Deetjes buntbemalte Holzwiege schaukelte. Glitzernde Schneewellen wuchsen vor die kleinen Fenster. Der Schnee knirschte …
Ted fröstelte.
Neun Jahre Tropenfahrt hatten sein Blut verdünnt und sein Hirn fiebrig gemacht. Bei jeder Wiederkehr war das Eis da. Mitten in der Brust. Er langte zum Glas. Schüttete den Schnaps in einem Zug hinter. Riß Deetje wieder an sich.
»Eine Prinzessin ist sie …« schwärmten die Seeleute von ihr, wenn sie frauenhungrig an Land gestürzt kamen. Aus Begeisterung und Tollheit tranken sie sich übervoll. Zumeist landeten sie doch am Schoß einer alten, schlampigen Vettel, die das Gesicht eines Pfefferfressers hatte. Sie sahen ja nichts mehr. Sie verglühten nur noch, wie Kohlen in der Asche. Ted war stolz: Nicht jeder hatte eine Prinzessin!
Auch platinweißes Haar läßt das Blut stöhnen. Es wühlt und will seinen Preis. Es siegte mit der hinreißenden Schwäche. Mit dem weißen Feuer des Alkohols. Es schwemmte den Schutt der Jahre fort. Wusch tief aus, bis auf den Grund. Rieselte plötzlich wieder wie der wehende Sand auf den blaßgelben Dünen seiner Heimat. Es gab kein Singapore mehr für Ted. Die Mädchen seiner Jugend waren blütenweiß. Taugetränkte Anemonen auf Frühlingswiesen. In ihren Gesichtern lag die zarte Kühle eines Maimorgens. Sie sangen zweistimmig alte Lieder, die ihre Mütter vor undenklichen Zeiten gesungen. An ihren derben, handgewebten Kleidern zauste der Wind. Silberblondes Haar wehte leicht und durchsichtig. Salziger Gischt sprühte in gerötete Gesichter. In Teds Ohren stand wieder das donnernde Branden der Nordsee.
Jonny G. Rieger:
Fahr zur Hölle, Jonny!
Verlag Walde + Graf
320 S., geb., 20,00 €
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