Wichtig ist die Selbstbefreiung

Raul Zelik über politische Monster sowie die grüne und feministische Erneuerung des Sozialismus

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Herr Zelik, ist es mit der linken Utopie tatsächlich so wie Bertolt Brecht meinte, der schrieb? »Der Kommunismus ist wirklich die geringste Forderung, das Allernächstliegende, Mittlere, Vernünftige.«

Uns ist, von rechts wie links, immer erzählt worden, dass es bei den großen Gesellschaftsalternativen um ideale Entwürfe geht, für die wir uns radikal ändern, zu »neuen Menschen« werden müssen. Aber eigentlich geht es genau um das Gegenteil: Wie können wir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so organisieren, dass solidarisches Verhalten und kooperative, demokratische Prozesse begünstigt werden? Marktgesellschaften sind da eher ungeeignet, denn sie stellen den Konkurrenzkampf in den Mittelpunkt und produzieren Ungleichheit. Unsere Frage muss daher lauten, welche gesellschaftlichen Strukturen - und die Eigentumsformen sind ein entscheidender Teil hiervon - besser geeignet wären. Das ist das Brechtsche »Mittlere«.

Zur Person

Raul Zelik, geboren 1968 in München, ist Politikwissenschaftler, Schriftsteller und Journalist. Seit den 1980er Jahren ist er in antifaschistischen und antirassistischen Gruppen aktiv; zeitweise lebte er in Lateinamerika und Südeuropa, heute in Berlin.

Zelik ist seit 2016 Mitglied des Parteivorstandes der Linkspartei. Er schrieb Romane wie »Friß und stirb trotzdem« (1997) oder »Der Eindringling« (2012) sowie mehrere Sachbücher, zum Beispiel über Spanien und die dortige Linke. Aus seiner Feder erschien dieser Tage »Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus« (Suhrkamp, 328 S., br., 18 €).

Sie schreiben in »Wir Untoten des Kapitals«, kaum etwas scheine toter als der Sozialismus. Wörtlich: »Leblos taumeln seine Anhänger*innen, unverständliche Satzfetzen vor sich hinstammelnd, umher.« Wieso halten Sie dennoch am Sozialismus-Begriff fest?

Ich behaupte, dass wir die Zombies des Kapitals sind: Wir machen die ganze Zeit Dinge, die wir nicht wollen oder von denen wir sogar wissen, dass sie falsch sind. Wir stellen Dinge her, die wir nicht benötigen, und verbringen unsere Freizeit in grauenhaften Shoppingmalls, um den Scheiß, den wir nicht brauchen, zu schlechter Musikuntermalung zu kaufen. Warum tun wir das? Letztlich, weil die wichtigste Handlungsmaxime in unserer Gesellschaft darin besteht, »die Wirtschaft« in Gang zu halten: Investiertes Kapital muss vermehrt werden. In der Corona-Pandemie haben wir das noch einmal zugespitzt erlebt: Neoliberale haben ernsthaft vertreten, man müsse den Tod von Menschen in Kauf nehmen, um »die Wirtschaft« zu retten. Die einzige mir bekannte Theorie, die plausibel erklärt, warum das so ist, ist die sozialistische. Deshalb verwende ich den Begriff. Allerdings würde ich ihn gern mit Marx und dem Feminismus radikal erneuert sehen.

Wie das?

Der Sozialismus des 20. Jahrhunderts war in beiden Facetten - der Sozialdemokratie und dem Parteikommunismus - staatszentriert. Der sozialistischen Bewegung geht es aber nicht um einen »starken Staat«, sondern um freie, egalitäre und solidarische Beziehungen unter den Menschen. Das meint ja der Begriff »klassenlose Gesellschaft«. Die wichtigste Voraussetzung hierfür ist die Selbstbefreiung. Diejenigen, die bislang unten waren, tun sich zusammen, um selbst zu entscheiden. Sozialismus muss also viel stärker von der Gesellschaft und den Selbstorganisierungsprozessen her gedacht werden. Dort, wo der Staat diese Prozesse zu ersetzen und zu steuern sucht - siehe Venezuela -, entstehen neue Formen der Klassenherrschaft.

Klingt nach mehr Anarchie wagen.

Nein, nicht wirklich, weil der Staat weiter ein zentrales Feld der politischen Auseinandersetzungen bleibt. Dort werden die Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Beziehungen festgeschrieben, die sozialen Kräfteverhältnisse sind dort verdichtet. Die Staatskritik des Anarchismus scheint mir da viel zu platt.

Wie sähe feministische Erneuerung aus?

Das feministische Denken kreist seit vielen Jahrzehnten um die Ökonomie des Care, um die Sorge- und Pflegearbeiten, die das Leben überhaupt erst ermöglichen, aber in den »produktivistischen« Theorien weitgehend ausgeblendet bleiben. Mir scheint, dass das Care-Paradigma ein guter Ausgangspunkt emanzipatorischer Politik ist. Also: alles von der Sorge um die sozialen Beziehungen und das Leben her denken, in das wir eingebettet sind. Vielleicht in dem Sinne der feministischen Biologin und Philosophin Donna Haraway, die den Begriff »Response-Ability« verwendet. Damit meint sie nicht das moralische »Pflichtbewusstsein«, sich um andere zu kümmern, sondern die Fähigkeit, auf anderes Leben zu antworten. Das scheint mir die Grundlage jeder Solidarität zu sein. Außerdem steckt in der Revolution der Geschlechterkonzepte viel emanzipatorisches Potenzial - nicht nur für Frauen. Nicht umsonst ist die alte und neue extreme Rechte so entschieden antifeministisch.

Vor allem aber fordern Sie ein ökosozialistisches Projekt ein: einen »grünen Sozialismus«.

Für alle, die Marx gründlicher gelesen haben, ist es ein alter Schuh, dass gesellschaftliche und Naturverhältnisse eine Einheit bilden. Jede Arbeit ist eine Stofftransformation, die die uns umgebende Natur verändert. Das Problem ist, dass die bürgerliche Nationalökonomie, aber auch die produktivistische Arbeiterbewegung dieses Eingebettetsein der sozialen Verhältnisse in die Natur weitgehend ignorierte. Marx wusste das besser: Eine Ökonomie, die in erster Linie die Wertschöpfung zum Ziel habe, schreibt er, untergräbt die Springquellen des Reichtums: die Erde und den Arbeiter. Ich denke, dieses Problem wird die große Herausforderung der nächsten 100 Jahre sein. In Anbetracht der technologischen Entwicklung geht es nicht mehr in erster Linie darum, dass Reichtum in die Welt kommt, und auch nicht nur darum, wie dieser verteilt wird. Die große offene Frage ist, wie wir den Stoffwechsel mit der Natur beschränken.

Aber das wollen ja auch die Anhänger eines »grünen Wachstums«, die den Ressourcenverbrauch von der Wertschöpfung entkoppeln wollen.

Ja, aber leider sind das bisher nur leere Versprechungen. Die Digitalisierung sollte uns den Abschied von der »braunen« Ökonomie ermöglichen. Stattdessen hat sie zu einem Bergbauboom geführt, der beispielsweise in Lateinamerika eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Das Internet trägt global heute genauso stark zu den CO2-Emissionen bei wie der Flugverkehr. Und auch der Bau von Millionen E-Autos wird die Emissionen zunächst einmal nicht senken, sondern erhöhen. Es geht also nicht nur darum, neue Technologien einzuführen, sondern den materiellen Stoffwechsel wirklich zu reduzieren. Dafür brauchen wir Konsummodelle, die nicht von den Bedürfnissen des Kapitals beherrscht sind. In erster Linie bedeutet das: mehr kollektive Infrastrukturen statt individuellem Konsum.

Welche Akteure sollten das durchsetzen?

Wir müssen Koalitionen aus sozialen und ökologischen Kämpfen schmieden. Die Haltung der IG-Metall-Führung zur Abwrackprämie ist zu Recht scharf kritisiert worden. Aber daraus abzuleiten, die Gewerkschaften seien politische Gegner, halte ich für die völlig falsche Schlussfolgerung. Die Gewerkschaft ist eine der wenigen Machtressourcen der unteren Klassen, um soziale Mindestrechte zu verteidigen. In der BRD ist es ein altbekanntes Problem, dass sich Beleg- und Gewerkschaften im Rahmen der Sozialpartnerschaft häufig mit den Interessen ihrer Konzerne identifizieren. In der ökologischen Frage wird das längerfristig fatal sein, denn die untere Hälfte der Bevölkerung wird von den Folgen des Klimawandels - der Unbewohnbarkeit küstennaher Gebiete, steigenden Lebensmittelpreisen, der Zuspitzung bewaffneter Konflikte - viel heftiger betroffen sein als die Reichen.

Und das bedeutet?

Als Gewerkschaftslinke müssen wir dafür sorgen, dass das in unseren Organisationen alle verstehen. Umgekehrt müssen aber auch die Klimabewegten viel stärker begreifen, dass die Umweltkrise mehr ist als ein Problem der Konsummodelle und Lebensweisen. Sie ist auch Ausdruck von Klassenverhältnissen. Dem französischen Ökonomen Thomas Piketty zufolge emittiert das obere eine Prozent in den USA pro Kopf 20 Mal so viel CO2 wie der durchschnittliche US-Bürger. Wenn die Zahlen stimmen, könnte ein Verbot des Luxuskonsums - Yachten, Privatjets, Villen, Vielfliegerei - die Gesamtemissionen um ein Fünftel senken. Das bringt offenbar mehr, als die Umstellung der Gesamtbevölkerung auf vegetarische Ernährung. Das trifft auch auf Deutschland zu: Nach Angaben von Oxfam emittieren die reichsten zehn Prozent Bürger bei uns so viel wie die unteren 40 Prozent. Der Klimawandel ist eben nicht nur ein Problem von Norden und Süden, sondern auch der Klassenverhältnisse.
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