»Humanitäre Hilfe ist nie unabhängig«

Anita Starosta von der Hilfsorganisation Medico International über Hilfslieferungen nach Syrien

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Hilfsorganisation Medico International leistet über Partner humanitäre Hilfe im Nordwesten Syriens, wo islamistische Rebellengruppen das Sagen haben, sowie im sogenannten kurdischen Gebiet Rojava im Nordosten. Vergangene Woche wurden durch eine Überarbeitung der UN-Resolution 2504 diese Hilfslieferungen stark eingeschränkt. Welche Folgen hat dies für Ihre Arbeit?

Die UN-Resolution regelt seit sechs Jahren die grenzüberschreitende Hilfe durch UN-Hilfsorganisationen nach Syrien in Gebiete, die nicht vom Assad-Regime kontrolliert werden. Das war einst über Jordanien, über den Irak und über die Türkei. Danach wurden sukzessive immer mehr dieser Grenzübergange durch das Veto von Russland und China im UN-Sicherheitsrat geschlossen, mit dem Ziel, dass diese UN-Hilfe eben nicht unabhängig ins Land kommt, sondern über Damaskus laufen muss. Zuletzt wurde im Januar der Grenzübergang in den Nordosten, also nach Rojava, geschlossen, im Juli dann einer von zweien in die Provinz Idlib. Das stellt unsere Partner dort vor ein sehr großes Problem; im Nordosten fehlen gerade 70 Prozent der Hilfslieferungen. Gerade unter dem Eindruck der Bedrohung durch die Covid-19-Pandemie kann man hier nur von einem Versagen der Multilateralen Weltordnung sprechen, von einem Versagen der UN, die es nicht schafft, selbst an diesem Punkt die Versorgung der Menschen, die wirklich in der großen Not sind, irgendwie zu gewährleisten. Denn die fehlende Hilfe wird kaum wie angekündigt über Damaskus kompensiert. Wenn, dann geschieht dies nur sehr verzögert und nicht in dem Ausmaß, wie das in den vergangenen Jahren der Fall war.

Anita Starosta

Anita Starosta ist bei der Hilfsorganisation Medico International für Öffentlichkeitsarbeit in Bezug zu Syrien zuständig. Mit nd-Redakteur Philip Malzahn sprach sie über die sechs Millionen Syrer, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, über den schwierigen Umgang mit der Corona-Pandemie in dem Bürgerkriegsland und ein Scheitern der UN im Angesicht dieser dringenden Fragen.

Stichwort »unabhängige« Hilfe. Der Vorwurf der syrischen und russischen Regierung ist, dass die Souveränität Syriens durch diese Hilfslieferungen untergraben wird. Zudem nennen sie diese Hilfslieferungen eine politische Waffe des Westens. Wird humanitäre Hilfe als politische Waffe verwendet?

Ich glaube, gerade wenn wir auf den Syrien-Konflikt schauen, dann müssen wir feststellen, dass humanitäre Hilfe nie unabhängig ist, sondern immer auch ein politisches Instrument. Das gilt aber für alle Seiten, wo humanitäre zu politischer Hilfe gemacht wird, und diese dann dazu instrumentalisiert, Machtpolitik zu spielen, sei es im Falle der Assad-Regierung oder jetzt von Russland und China, die versuchen, diese UN-Hilfe über Damaskus zu lenken. Wir hatten gerade erst den Fall, dass das WHO-Büro in Damaskus viel zu spät Corona-Testergebnisse in den Nordosten geliefert hat. Zudem hat man im Umgang mit dem Virus eine wirklich desaströse Informationspolitik betrieben. Zusammenfassend kann man sagen, humanitäre Hilfe wird immer als politisches Instrument benutzt, gleichzeitig ist es bei sechs Millionen Syrern, die dringend auf diese Hilfe angewiesen sind, zynisch, immer nur von politischer Instrumentalisierung zu sprechen.

Wie geht Medico International damit um?

Der Ansatz von Medico International ist die Zusammenarbeit mit lokalen Hilfsorganisationen und Initiativen vor Ort. Unsere Strategie ist es also, in Syrien zu schauen, wo es noch Akteure gibt, die gewährleisten können, dass sie mit einem humanitären und zivilen Ansatz arbeiten. Wir suchen Partner, deren oberste Priorität es ist, allen Menschen in Not zu helfen. Akteure, die sich in diesem doch sehr entgrenzten Stellvertreterkrieg nicht instrumentalisieren lassen. In Idlib unterstützen wir zum Beispiel ein Frauenzentrum, das unter den schwierigsten Bedingungen - parallel unter Bedrohungen der islamistischen Milizen sowie den Luftangriffen Assads und Russlands - eine tolle Arbeit leisten und ein wichtiges Ansprechzentrum für Frauen sind.

Wie kommt es, dass der russische und chinesische Kompromiss vorsieht, Hilfslieferungen ausgerechnet in die von Islamisten kontrollierten Teile Syriens weiter zu gewährleisten, während die kurdischen Gebiete, die Assad nie den Krieg erklärt haben, abgeschnitten werden?

Ich glaube, es geht darum, eine reale Annäherung des Assad-Regimes an die dortige Selbstverwaltung zu erreichen. Es ist ja kein Geheimnis, dass beide Seiten immer wieder mit einander verhandeln. Das strategische Interesse dahinter ist, dass die Abhängigkeit von Damaskus gestärkt wird. Das folgt über den Bereich der humanitären Hilfe. Ein Beispiel: Der Kurdische Halbmond, eine sehr eigenständige Organisation, ist jetzt darauf angewiesen, mit dem UN-Büro und auch dem WHO-Büro in Damaskus und den entsprechenden Ministerien über Hilfslieferungen in Verhandlungen zu treten.

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