Träumer in Ketten

Als politischer Gefangener leistete Fjodor M. Dostojewski vier Jahre Zwangsarbeit im sibirischen Omsk. Seine «Aufzeichnungen aus einem toten Haus» über den Alltag in Gefangenschaft wurden nun neu übersetzt

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 7 Min.

Hinter diesem Tor war die lichte freie Welt, lebten Menschen wie jedermann. Doch diesseits des Zauns stellte man sich diese Welt unwirklich vor, wie ein Märchen. Hier hatte man seine eigene Welt, die nichts anderem mehr gleich war, hier hatte man seine eigenen Gesetze, seine Kostüme, seine Sitten und Bräuche, hatte bei lebendigem Leib ein totes Haus.« So beschreibt Fjodor M. Dostojewski in den »Aufzeichnungen aus einem toten Haus« das Leben in Gefangenschaft.

Der Schriftsteller gehört zu den bekanntesten der Weltliteratur. »Verbrechen und Strafe« und »Die Brüder Karamasow« sind Meisterwerke, die zusammen mit Lew N. Tolstois »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« für die Größe des russischen Romans im 19. Jahrhundert stehen. Doch bevor Dostojewski seine berühmten Romane schrieb, lebte er zehn Jahre in der Verbannung in Sibirien. Er hatte an politisch-revolutionären Diskussionsrunden teilgenommen, unter anderem bei Michail W. Petraschewsk, der den Ideen des Frühsozialismus nahestand und eine grundlegende Veränderung und Demokratisierung Russlands forderte. Die Geheimpolizei der Zaren stufte dies als Gefahr ein, und so wurden der 28-jährige Dostojewski und weitere Teilnehmer der Treffen im April 1849 verhaftet und zum Tode verurteilt. Erst kurz vor der geplanten Vollstreckung - Dostojewski befand sich schon auf dem Hinrichtungsplatz - änderte der Zar das Urteil zu »Katorga«, was Verbannung und Zwangsarbeit bedeutete.

Von Sankt Petersburg aus kommend, war der Schriftsteller einen Monat unterwegs, bevor er die Omsker Festung, den Ort seiner Verbannung, erreichte. Omsk liegt im südwestlichen Teil von Sibirien, etwa dreieinhalb Flugstunden von Moskau entfernt, zwischen Jekaterinburg und Nowosibirsk. Zur Zeit von Dostojewskis Gefangenschaft hatte Omsk weniger als 20 000 Einwohner, heute ist es eine Millionenstadt.

Im Gebäude der ehemaligen Kommandantur der Festung befindet sich heute das Dostojewski-Literaturmuseum, das Leben und Werk des Schriftstellers mit Fokus auf seine Zeit in Omsk präsentiert. Bilder, Beschreibungen und ein Paar eiserne Fußketten, die die Gefangenen Tag und Nacht tragen mussten, illustrieren den Gefängnisalltag. Ausgestellt sind auch die mit kleiner Schrift bedeckten Seiten aus dem »Sibirischen Heft«, den Aufzeichnungen, die Dostojewski heimlich im Gefängnishospital anfertigen konnte, weil ein Arzt Nachsicht zeigte. Generell war das Schreiben im Gefangenenlager verboten, worunter Dostojewski sehr litt. Auch lesen war nicht gestattet, nur die Bibel bildete eine Ausnahme. Im »Sibirischen Heft« notierte Dostojewski vor allem kleine Szenen aus dem Katorga-Alltag sowie Ausdrücke und Redewendungen der Gefangenen, die später Eingang in die »Aufzeichnungen aus einem toten Haus« fanden.

Befremdlich an der Ausstellung ist die stolze lokalpatriotische Inszenierung von Omsk als Dostojewskis Schicksalsort. Bei einer Führung wird den Besucher*innen erklärt, dass die Gefangenschaft natürlich nicht schön war, aber Omsk Dostojewski zu dem großen Autor gemacht hat, als den man ihn heute kennt und liebt. In Omsk sei der alte Dostojewski gestorben und das Genie geboren worden. Es klingt, als wäre man stolz darauf, dass er in Ketten gelegt wurde und zusammen mit Schwerverbrechern Zwangsarbeit leisten musste.

Dass die Erfahrungen in der Gefangenschaft wichtig für Dostojewskis späteres Werk waren, ist allerdings unbestritten. An seinen Bruder schrieb er: »Was habe ich aus der Katorga nicht alles für Typen, Charaktere aus dem Volk mitgebracht! (…) Für ganze Bücher würde das reichen. Was für ein bewundernswertes Volk. Überhaupt ist die Zeit für mich nicht verloren.« Die »Aufzeichnungen aus einem toten Haus« über das Leben in der Katorga und einige der besonderen »Charaktere« unter den Gefangenen war das erste Buch, das Dostojewski nach dem Ende seiner Verbannung veröffentlichte. Es handelt sich dabei aber weder um einen autobiografischen Bericht noch um eine Reportage, sondern um eine literarische Fiktion, die von realen Begegnungen und Erfahrungen inspiriert wurde. Der Text gibt den Leser*innen einen wichtigen, ungeschönten Einblick in eine Welt, die zuvor in der Literatur noch nicht geschildert worden war. Im Hanser-Verlag ist vor Kurzem Barbara Conrads Neuübersetzung der »Aufzeichnungen« erschienen. Sie hat die stilistischen Eigenheiten und die besondere Sprache des Texets möglichst originalgetreu nachgebildet. Besonders die vielen Dialoge und das Schimpfen, das die Häftlinge als die Kunst, »mit der Zunge (zu) prügeln«, perfektioniert haben, werden so für das deutschsprachige Publikum erfahrbar.

Der Erzähler der »Aufzeichnungen« ist Alexander Gorjantschikow, ein Adliger, der seine Frau aus Eifersucht ermordet hat und zu zehn Jahren Katorga verurteilt wurde. Er schildert, was er im Gefängnis sieht und erlebt und worüber seine Mitgefangenen miteinander sprechen. Der Gefangenenalltag ist geprägt von Enge, Unruhe und fehlender Privatsphäre: »Lärm, Stimmengewirr, Gelächter, Flüche, Kettengeklirr, Kohlerauch und Ruß, rasierte Köpfe, gebrandmarkte Gesichter, zerlumpte Kleidung, nichts als beschimpftes, entehrtes Volk« sind die ersten Eindrücke. Zu essen gibt es jeden Tag Kohlsuppe voller Kakerlaken. Am schlimmsten ist für Gorjantschikow allerdings »das erzwungene Zusammenleben aller«, dass man nie alleine sein kann.

Die Zwangsarbeit dagegen ist auszuhalten, das Schwere daran ist nicht die tatsächliche Härte der Arbeit, sondern dass sie nicht selbst gewählt und für den Arbeitenden völlig nutzlos ist. Erschütternd sind die Schilderungen der harten körperlichen Strafen bei Vergehen: Mit Hunderten Stockschlägen wurden die Gefangenen krankenhausreif geprügelt. Doch es werden auch Lichtblicke des Katorga-Lebens beschrieben, etwa eine gemeinsam einstudierte Theateraufführung, die für einen Moment das schwere Leben vergessen lässt, oder die Arbeit am Ufer des Irtysch, von wo aus man in die Natur und die Freiheit sehen kann.

Von der Freiheit zu träumen, ist eine der häufigsten Beschäftigungen der Gefangenen. »Hier waren alle Träumer«, schreibt Dostojewski. Er schildert verschiedene Arten, mit der Situation der jahrelangen Gefangenschaft umzugehen, und betont die erstaunliche Anpassungsfähigkeit der Menschen. Nur wenige waren völlig verzweifelt oder resigniert. Für die meisten machte die Hoffnung auf baldige Freiheit, auch wenn sie oft völlig unrealistisch war, das Leben erträglich. »Ohne irgendein Ziel und das Streben dahin kann kein einziger lebendiger Mensch leben. Hat er Ziel und Hoffnung verloren, wird sich der Mensch vor Kummer nicht selten in ein Ungeheuer verwandeln … Das Ziel bei allen von uns war die Freiheit und das Verlassen der Katorga.«

Die Figuren in den »Aufzeichnungen aus einem toten Haus« sind Mörder, Räuber und andere Straftäter. Politische Gefangene, wie Dostojewski einer war, werden nicht erwähnt, was als Zugeständnis an die Zensur verstanden werden kann. So auch die mehrfache Betonung, dass das Geschilderte nicht mehr den aktuellen Bedingungen entspreche: »Jetzt, habe ich gehört, ist das alles anders und wird verändert.« Trotzdem findet sich im Text deutliche Kritik am Strafsystem insgesamt: »Natürlich können Gefängnisse und das System der Zwangsarbeit den Verbrecher nicht bessern«, sondern sie entwickelten in ihm »nur Hass, nur die Gier nach verbotenen Genüssen und einen schrecklichen Leichtsinn«. Er wird »dort endgültig verdorben«. Und wenn Dostojewski schreibt, dass »Tyrannei eine Angewohnheit« sei und »selbst der beste Mensch durch Gewohnheit abstumpfen und bis auf die Stufe eines Tiers verrohen kann«, weil »Blut und Macht berauschen«, bezieht sich das weniger auf die inhaftierten Mörder als auf diejenigen, die die Gefangenen mit Stockhieben halb totprügeln.

Doch auch über die Mörder und ihre Motivation denkt der Erzähler nach. Warum begehen Menschen grausame Verbrechen, und wie denken sie über ihre Taten? Diese Fragen ziehen sich durch die »Aufzeichnungen«. Mehrere der inhaftierten Mörder und ihre Taten werden ausführlich beschrieben. Gorjantschikow versucht, die Morde mit den Personen zusammenzubringen, denen er im Gefängnisalltag begegnet. Auf die einfache Sichtweise, dass ein Mörder ein schlechter, skrupelloser und grausamer Mensch sein muss, lässt er sich nicht ein. »Manch einer hatte nicht gemordet und war doch schrecklicher als ein anderer, der wegen sechs Morden gekommen war.«

Durch diese Reflexionen über den Charakter und die Motivationen von Verbrechern sowie den Sinn und Unsinn von Bestrafung erhalten die »Aufzeichnungen aus einem toten Haus« ihre besondere Tiefe. Dostojewski wagt hier einen ersten Blick in die Abgründe der menschlichen Seele, deren Erkundung im Zentrum seiner späteren großen Romane steht. Es passt gut, dass der erste von ihnen »Verbrechen und Strafe« heißt.

Fjodor M. Dostojewski: »Aufzeichnungen aus einem toten Haus«. A. d. Russ. von Barbara Conrad. Hanser, 544 S., geb., 36 €.

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