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Hessische Zustände
Der Rapper Haftbefehl schießt sich auf einem Provinzbahnhof selbst ins Bein - Ein Dramolett
Ein Schuss, ein Schrei und ein Anruf bei der Polizei. Am vergangenen Freitag lief es nur mäßig für den Rapper Haftbefehl. Unter »Drogeneinfluss« soll sich der 34-Jährige mit einer Schusswaffe eine schwere, aber nicht lebensbedrohliche Verletzung zugezogen haben. Seinem Bad-Boy-Image getreu, verweigerte »Hafti« die Zusammenarbeit mit den herbeigerufenen Polizeikräften. Die genaueren Umstände des Vorfalles sind deshalb ungeklärt. Durchsuchungen in einer Bar und dem Wohnsitz des Rappers konnten nicht zur Klärung des Vorfalls beitragen.
Drogen, Waffen und Blut. Das Missgeschick des Aykut Anhan, wie Haftbefehl bürgerlich heißt, war ein gefundenes Fressen für die lokalen Medien. Lustvoll titelte die »Hessenschau«: »Rapper Haftbefehl schießt sich selbst ins Bein.« Zum Glück ließ man nicht den Praktikanten, wie sonst üblich zu dieser Uhrzeit, den Titel auswählen, sonst wären die Worte »Knie« und »Schuss« in einer semantischen Dichte gefallen, die das Elend des Lokaljournalismus perfekt illustriert und dessen Zustand als Zombie des Informationsaustausches nur allzu deutlich gemacht hätte.
Wo das Elend am größten ist, werfen schlechte Nachrichten bekanntlich die größten Schatten. Die Online-Ausgabe der »Offenbacher Post« richtete einen Ticker ein, in dem die aktuellsten Neuigkeiten rund um den bekanntesten Sohn der Stadt veröffentlicht wurden. Ein Spannungsbogen wird dabei schmerzlich vermisst. Moritz von Uslar hatte noch einen Monat zuvor für die »Zeit« »Deutschlands populärstem Gangster-Rapper« in der Stadt seine Aufwartung gemacht. Selbstverständlich war es hochnotpeinlich. Man traf sich im Industriepark. Niemand, der noch halbwegs bei Verstand ist, möchte in Offenbach tot über dem Zaun hängen.
»Frankfurt am Main. Die Bankenstadt - Die Wolkenkratzermetropole, die Kriminalitätshauptstadt«, so klingt eine Liebeserklärung an einen Sehnsuchtsort für Gangster und Rapper. Blamabel für Anhan: Die Schussverletzung hat er sich nicht im Frankfurter Bahnhofsviertel, sondern am Bahnhof in Babenhausen zugefügt. Hier betreibt der selbsternannte Babo seit Weihnachten 2015 eine Sisha-Bar. Das Umland des Ortes wird laut Wikipedia zum Großteil ackerbaulich genutzt. Um die Stadt herum verteilen sich mehrere Kiesgruben. Keine Wolkenkratzer weit und breit. Nirgendwo sind Banken, die es sich lohnt zu überfallen. Die Kriminalitätshauptstadt könnte wahrlich nicht weiter entfernt sein.
Derweil verrichtet die »Offenbacher Post« ihr Tagewerk. Im Ticker wird spekuliert, »ob es sich bei dieser Aktion des Rappers gar um eine Promo-Aktion« für sein neuestes Werk »Das Weisse Album« handelt. Eine journalistische Bankrotterklärung. Haftbefehl ist ein Meister der Selbstvermarktung. Sein Vermögen wird auf 1,5 Millionen Euro geschätzt. Mit »DWA« erzielte er vor einem Monat seine erste Nummer eins in den deutschen Hip-Hop-Charts als Solokünstler. Musikalisch ist das Album über dem Durchschnitt anzusiedeln, aber dank der sich ständig wiederholenden »Herabwürdigung von Armen, Schwachen und Frauen«, wie Jakob Biazza in der »Süddeutschen Zeitung« zu Recht anmerkt, wahrlich kein Ohrenschmaus. Der Rapper verschwende »sein Potenzial an Kapitalismus-Hörigkeit«, konstatiert Biazza.
Die »Offenbacher Post« hat einen anderen Standpunkt. Nachzulesen im Ticker. Wegen »seiner großen Heimatverbundenheit« und weil der Rapper schließlich einer sei, »der es geschafft hat, erfolgreich zu sein«, wäre im Zuge der Kolonialismus-Debatte eine Petition, die Bismarckstraße in Offenbach nach Haftbefehl umzubenennen, sogar auf Zuspruch im Rathaus gestoßen. Dies solle »Migrant*innen zeigen, dass sie auch erfolgreich sein können«. Die Trauben in der Stadt an der hessischen Apfelwein- und Obstwiesenroute hängen offenbar ziemlich tief.
Das Ende des Nachrichtenaufkommens zur tragischen Selbstverletzung des Aykut Anhan steht sinnbildlich für den Stand der Integration von hessischen Lokaljournalisten in eine Einwanderungsgesellschaft wie die hiesige. Den von Haftbefehl aus dem Krankenhaus gesendeten Tweet »Hamdullah mir geht’s gut!« übersetzt die Redaktion wohlmeinend für jenen Teil der Landbevölkerung, der zumindest einen Internetanschluss hat: »Hamdullah ist arabisch und bedeutet ›Gott sei Dank‹.« Ich schwöre, in diesem Bundesland hat nicht nur die Polizei ein strukturelles Problem.
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