Angst vor dem Tabubruch

Fanvertreter warnen: Die Corona-Sonderregeln dürfen kein Dauerzustand im Profifußball werden

  • Frank Hellmann, Frankfurt am Main
  • Lesedauer: 4 Min.

Thomas Kessen hat das Szenario schon durchgespielt. Der Anhänger des VfL Osnabrück würde liebend gerne bald wieder ein Heimspiel des Zweitligisten an der Bremer Brücke besuchen: »Um mir persönlich vor Ort ein Bild zu machen und endlich wieder ein Fußballspiel zu sehen.« Gleichwohl glaubt der Beisitzer aus dem Vorstand der Fanvereinigung »Unsere Kurve« nicht, dass er sich mit den avisierten Rahmenbedingungen zur neuen Saison für einen längeren Zeitraum anfreunden kann. Dafür sind die Einschränkungen durch das am Dienstag auf der virtuellen Mitgliederversammlung der Deutschen Fußball-Liga (DFL) zur Abstimmung stehende Konzept zu erheblich; dafür schränkt der neue Leitfaden das gewachsene Fußballerlebnis zu sehr ein.

Stehplatz- und Alkoholverbot bis mindestens zum 31. Oktober, personalisierte Tickets und keine Gästefans - damit werden vorübergehend jene englischen Verhältnisse erschaffen, gegen die deutsche Fanorganisationen bislang erfolgreich angekämpft haben. Das erschüttert sozusagen die »Grundrechte« einer Kurve im Kern. Kessen ist bewusst, dass es in der Pandemielage »zwischen dem Gesundheitsschutz und der Fankultur einen nicht auflösbaren Widerspruch gibt«. Trotzdem besteht bei dem 31 Jahre alten VfL-Anhänger - ob begründet oder nicht - die Befürchtung, dass »es unter dem Corona-Deckmantel zu Regularien kommt, die sich später nicht zurücknehmen lassen«. Und manche Planspiele sorgen nur für Kopfschütteln. »Wenn jegliches Singen, Schreien und Rufen verboten ist, wird aus dem Fußballspiel eher eine Theaterveranstaltung«, sagte Vorstandskollege Jost Peter der »Augsburger Allgemeinen«.

Die vor 15 Jahren gegründete Interessengemeinschaft »Unsere Kurve« vertritt 21 Fanorganisationen mit einer sechsstelligen Zahl aktiver Fans, die über die AG Fankulturen mit DFL und DFB im Dialog stehen - wenn jetzt ein Klima des Misstrauens entstünde, wäre das der weiteren Verständigung zu wichtigen Kernthemen nicht dienlich. »Fans und Fanvertretungen müssen zwingend bei allen Prozessen um die Wiederzulassung von Publikum eingebunden sein«, hieß es bereits in einem am Montag veröffentlichten Positionspapier, ehe sich am Tag darauf die DFL äußerte. Das wichtigste Fanbündnis hatte das Recht auf Mitsprache, Zulassung von Gäste-Anhängern, Gleichbehandlung, strengen Datenschutz und verbindliche Zusagen verlangt. So geht es bei diesem sensiblen Thema auch mal wieder um die Deutungshoheit.

Kessen fordert, dass die aufgeführten Punkte explizit nur für die Zeit der Coronakrise gelten »und dies beispielsweise in den Ticketbedingungen auch hinterlegt wird«. Wie jeder Fan dann vor Ort mit den Gegebenheiten umgeht, sei letztlich die Sache jedes Einzelnen. »Wir raten bestimmt nicht vom Stadionbesuch ab. Das steht uns gar nicht zu.« Laut Peter würden viele der organisierten Anhänger ohnehin weiter zu Hause bleiben. Denn: »Ein Ausleben eines Fan-Daseins ist unter Corona-Bedingungen gar nicht möglich.« Aber was ist die Alternative?

Auch die Ganz-oder-gar-nicht-Losung von Fredi Bobic, Sportvorstand von Eintracht Frankfurt, ist nicht anwendbar, denn ausverkaufte Arenen bleiben auf absehbare Zeit wohl Wunschvorstellung. Ergo müssen Kompromisse zur Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln her, was wiederum stark von den örtlichen Gegebenheiten abhängt. Ein vertracktes Thema, beim dem sich die DFL um praktikable Lösungen bemüht, die dann im wichtigsten Schritt noch von den Behörden abgesegnet werden müssen. Daher scheint fraglich, ob es mit dem Saisonstart ein einheitliches Vorgehen für alle 36 Klubs der beiden Bundesligen gibt.

Michael Gabriel von der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) hält das vorgelegte Konzept für »durchdacht und unterstützenswert«, sieht aber zwei Herausforderungen: die Verteilung der Tickets (»sie muss gerecht und transparent erfolgen«) sowie den Verzicht auf Auswärtsfans, die auch für die DFL »einen wichtigen Bestandteil der deutschen Fußballkultur ausmachen«. Sonst wäre in der Spielordnung kaum verankert, dass dem Gastverein ein Ticketkontingent von mindestens zehn Prozent der Stadionkapazität zusteht. Dieser Anteil muss nach Gabriels Ansicht nicht auf null runtergefahren werden. »Ich hielte es für verantwortbar und für überlegenswert, eine begrenzte Zahl von Auswärtsfans unter bestimmten Voraussetzungen zuzulassen«, sagt der Fanexperte, der darauf verweist, dass dieses Verfahren womöglich bei dem einen oder anderen Verein in der Regionalliga zur Anwendung kommt.

Gabriel würde sich auch eine Diskussion darüber wünschen, ob alle Stehplatzbereiche kategorisch geschlossen werden müssen. »Für einen Verein wie Union Berlin, der in überwiegender Zahl Stehplätze anbietet, wäre die Umrüstung mit großem Aufwand verbunden.« Ihm sei bewusst, dass dann womöglich mehr Ordnungspersonal eingesetzt werden müsse, doch warum sollte den Anhängern nicht »ein hohes Maß an Eigenverantwortung überlassen werden«? Denn: »Die Fans haben sich seit dem Restart in überwiegender Mehrzahl sehr verantwortungsvoll verhalten und sind sich der Besonderheit der Situation durchaus bewusst.«

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