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Verlorenes Firlefanzfernsehen

Magazine, Reportagen, Dokus vor 22 Uhr? Fehlanzeige! Wer aber das Programm früherer Tage betrachtet, findet nicht nur Besseres zur besseren Sendezeit. Eine Studie zur Lage des Sachfilms am Bildschirm

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer Volker Herres von der ARD zuhört, könnte meinen, dieser sei gar keinem Staatsvertrag verpflichtet, sondern nur den vermeintlichen Sehgewohnheiten des Publikums. Die könne man zwar »ein Stück weit prägen«, sagte der Programmdirektor mal zur Kritik am nächtlichen Asyl dokumentarischer Formate, »aber niemanden überlisten, geschweige denn nötigen«. Und weil Fernsehen »in hohem Maße« daraus bestehe, was die Zuschauer davon angeblich erwarten, müsse sich auch seine Planung daran orientieren.

Der Medienjournalist Fritz Wolf hat im Auftrag des Branchenverbandes AG Dok eine Studie zur Lage des Sachfilms am Bildschirm veröffentlicht. Ganze sieben Prozent der untersuchten Formate, so Wolf, »behandeln gesellschaftspolitisch relevante Themen«, nur drei von 100 nähmen Bezug auf »Wissenschaft und Technik«. Falls sich der Kernbestand informationeller Grundversorgung doch mal ins öffentlich-rechtliche Abendprogramm verirrt, dann bei Nischenkanälen wie 3sat und Arte oder im engen Korsett normierter Reihen wie »Menschen hautnah« oder »37 °«, wo die Regel »Form follows function« durch universelle Normenkontrolle ad absurdum geführt wird. Weil das Äußere also zusehends wichtiger werde als aller Inhalt, sei die künstlerische, schlimmer noch: die journalistische Freiheit der Kreativen massiv eingeschränkt. Mit Folgen auch fürs Publikum.

Anders als in Zeiten von Alexander Kluge, Edgar Reitz oder Harun Farocki, deren experimenteller Stil bis tief in die 80er Jahre hinein trotz sperriger Dramaturgie Topquoten erzielte, müssen sich ihre Nachkommen nicht nur ästhetisch am fiktionalen Film orientieren, um die Aufmerksamkeitsschwelle in Sichtweite zu behalten. Bei »Terra X« wähnt man sich daher im Actionthriller, während selbst die einst so betulichen Tierfilme meist scheppern wie von Hans Zimmer vertont. Ob »Elefant, Tiger & Co.« oder »ZDFzoom«: Autoren, beklagt Fritz Wolf, seien »kaum mehr als Erfüllungsgehilfen eines Konzepts«, das eher aggressiv ergreifen soll als informativ berühren.

In dieser Art Firlefanzfernsehen gehen kompliziertere Dokumentarfilme, stillere zumal, naturgemäß unter. Immerhin: Es gibt sie noch. Das reflexive Medienstück »Wie Holocaust ins Fernsehen kam« etwa erhielt Anfang des Jahres ebenso den begehrten Grimme-Preis wie die ausgezeichnete Seenotretter-Begleitung »Sea-Watch 3«. Bis zum (coronabedingt ohnehin gedimmten) Rampenlicht in Marl allerdings mussten sich beide mit Erstausstrahlungen nahe Mitternacht begnügen - die Primetime von WDR und NDR war mit standardisiertem Infotainment belegt. Kein Platz also für Berichte mit Irritationspotenzial.

Schaut man ins Fernsehprogramm des Jahres 2020, findet man: Krimis, Krimis, Krimis für greises Kernpublikum, das abseits des omnipräsenten Live-Sports noch mit Heimatfilmen plus Volksmusik goutiert wird. Reist man jedoch zurück in jenes monopolistische Zeitalter, als ARD und ZDF das TV-Programm der Gegenwart kalibrierten, waren die Sehgewohnheiten noch andere als, sagen wir, nächsten Freitag zur besten Sendezeit. Im Ersten läuft da nämlich der ortsübliche Alpenkitsch vom Schnulzenhof Degeto, bevor nach den »Tagesthemen« ein uralter »Tatort« folgt. Das Zweite öffnet derweil Konserven von »Ein Fall für zwei« und »SOKO Leipzig«, weshalb hinter »Heute-Journal« und True Crime à la »Aufgeklärt - Spektakuläre Kriminalfälle« erst um 23.15 Uhr Zeit fürs Kulturjournal »Aspekte« bleibt. Und die Dritten? Verfüllen ihre Primetime wie immer mit Standort-PR von »Expedition in die Heimat« bis »50 Gründe, Südtirol zu lieben«. Magazine, Reportagen, Dokus vor 22 Uhr? Fehlanzeige! Und übers parallele Angebot der Privatsender hüllen wir an dieser Stelle lieber den Mantel des Schweigens.

Ganz anders dagegen ein Freitag, vier Jahrzehnte zuvor: Als Pro7, Youtube und Netflix allenfalls Illusionen marktradikaler Strategen im erstarrten TV-Betrieb waren, zeigte das Erste um 20.15 Uhr das Dokumentarspiel »Manzanar« über die Internierung US-amerikanischer GIs in Pearl Harbour, gefolgt von »Plusminus« und den »Tagesthemen«. Das ZDF sendete nach »Der Alte«, ein geistreiches Porträt des Komikers Jerry Lewis, stolze 55 Minuten früher als heute »Aspekte«. Und die Dritten? Adelten ihre Primetime mit Sachfilmen über den Nato-General Gerd Schmückle und ein Schulprojekt in Nizza.

Gewiss, es war die Epoche dreier Kanäle. Den Feierabend diktierte die »Hörzu«, und Rosamunde Pilcher wirkte noch fast so fern wie Stefan Raab, LED-Wände oder »Game of Thrones«. Trotzdem waren die Zuschauer vor dem dualen System, das sie bald darauf lückenlos mit Rot- und Blaulicht versorgte, keineswegs anspruchsvoller, belesener oder gar intelligenter als jene von heute, denen Programmgestalter wie Volker Herres vor dem Anbruch der Müdigkeit fast vollumfänglich leichte Kost meist mit, selten ohne, Mörder vorsetzten; sie besaßen nur - Obacht - andere Sehgewohnheiten. Der Journalist Fritz Wolf würde womöglich sagen: bessere.

Als der russische Präsident Wladimir Putin für die olympischen Winterspiele mit tyrannischer Brutalität das subtropische Sotschi skisporttauglich gewalzt hatte, gab es durchaus kritische Abrechnungen mit diesem Umgang mit allen demokratischen Werten. Doch während die akribische ARD-Studie »Putins Spiele« fünf Tage vor der Eröffnungsfeier im Spätprogramm versteckt wurde, lief kurz danach in der einschaltstarken Primetime die süßliche Tierschau »Wilder Kaukasus«. Fernsehen, sagte Volker Herres seinerzeit vor dem Beginn der Selbstbeweihräucherung von »Top of the Docs« in Berlin, wo sich die ARD jedes Jahr für monatlich gut 750 Sachfilmstunden aller ARD-Kanäle feiert, Fernsehen bestehe eben »einfach in hohem Maße aus Sehgewohnheiten«. Und der Montag sei halt Naturfilmzeit. Punkt.

Dass ihm die Gäste im Meistersaal jeden Applaus verwehrten, während der Regisseur Arne Birkenstock für seine Forderung, »mal 90 Minuten Primetime pro Woche für unformatierte Dokus freizuräumen«, stehende Ovationen bekam, ficht den Hauptverantwortlichen dabei ebenso wenig an wie der gewaltige Bedarf nach seriöser Berichterstattung im Zuge von Covid-19. Über Wochen hinweg perforierten reichweitenstarke Sondersendungen und Reportagen spielend jedes Programmschema. Dennoch dürfte dieser Bruch aller Sehgewohnheiten folgenlos bleiben. Während der kommerzielle Teil des dualen Systems in Wirklichkeit ohnehin nur noch simuliert, sitzen den Bildungsbeauftragten schließlich die Streamingdienste im Nacken, deren Ästhetik wiederum global verwertbar sein muss.

Weltmarktführer Netflix zum Beispiel wird aus Sicht des Branchenkritikers Wolf »nur das verwenden, was sich monetarisieren lässt und kommerziell nutzbar ist«. Mit anderen Worten: formatierte Blockbuster-Ästhetik, aufgebaut wie Melodramen, geschnitten wie Thriller, orchestriert wie Musicals, gerne auch mit Tieren und Mördern oder wie im Fall der sensationell erfolgreichen Netflix-Doku »Tiger King« mit beidem. Die Fiktionalisierung der Sachlichkeit - wenn Sender wie ARD oder ZDF nicht bald dagegensteuern -, ist kaum noch aufzuhalten.

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