Kalte Hotdogs

Eileen Myles’ queerer Klassiker »Chelsea Girls« erscheint erstmals in deutscher Übersetzung

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 6 Min.

Eileen fährt mit ein paar Schulfreundinnen nach Cape Cod, um nach dem Prüfungsstress auszuspannen und Jungs zu treffen. Es ist der Sommer 1967, die Stimmung ausgelassen, alle trinken zu viel, Eileen am meisten. Sie knutscht herum, geht mit einem ins Schlafzimmer - und dann fängt es an.

(Achtung, es folgen drastische Schilderungen von sexualisierter Gewalt.)

»Keine Ahnung. Nur eine Abfolge vieler Typen, irgendwie kommt es mir vor, als seien plötzlich alle versammelt gewesen, nur ist das vielleicht auch nur Einbildung, aber dann saß da klar erkennbar Dave, ein Therapeutensohn, Dave Margolis, oder so ähnlich, und er war dunkelhaarig und er saß auf der anderen Seite des Bettes und sagte, du bist ekelhaft, du bist eine Schlampe. Es war, als würde man beim Zahnarzt eine Betäubung kriegen. Ich fühlte mich fett, ich weiß noch, dass ich meinen Körper hasste. Es ging weiter und weiter, mit Leuten auf mir drauf, ganz ängstlich, ganz angetörnt. Träume ich? Vergewaltigung war der erste Sex, von dem ich je gehört habe. Irgendein Mädchen, unten beim Spy Pond an einen Telefonmast gefesselt. In der Natur schien das ständig zu passieren. Ich erstickte. Viele Schwänze wurden mir in den Mund geschoben. Anfeuerungsrufe. Ich wurde von kalten Hotdogs gefickt. Alles war voll mit Pfannkuchenteig. Ich weiß noch, dass ich meine karierte Wollhose nicht mehr anhatte. Dass ich ganz bleich war. Mir war kalt.«

Der Bruder einer Freundin macht ebenfalls mit, und die Mädchen schreiten nicht ein, weil sie angeblich denken, ihr würde es »gefallen«, weil sie zu weggetreten sind oder sie selber zu viel Angst haben. »Eine Gruppe gut aussehender Vorstadtjungs, 18 oder 19, so alt wie ich, die alle Autos hatten, behandelte mich aus zwei Gründen wie Müll: Ich war betrunken, sie kannten mich nicht.« Das ist ihr Summer of Love.

Eileen Myles ergänzt den Blick auf die die späten sechziger Jahre um eine ungeschönte, weibliche und queere Perspektive. Und die legt den Schluss nahe, dass die sexuelle Befreiung mindestens asymmetrisch war, dass die Jungs durchaus mehr profitiert haben von der großen Freizügigkeit und Liberalität. Vor allem aber registriert sie sehr genau deren latente Gewalttätigkeit und potenzielle Übergriffigkeit, trotz der schönen Love-&-Peace-Ideologie. Immerhin, auch Myles fährt nach Woodstock, und was sie dort Positives erlebt, deckt sich mit dem, was man darüber gehört und gelesen hat.

Dennoch ist sie froh, dass der Hippie-Schmus irgendwann vorbei ist. Ihre persönliche Befreiung beginnt in den Siebzigern im New Yorker East Village, wo sie ihre sexuellen Präferenzen endlich voll ausleben kann, wo sie irgendwann nicht mehr nur Tagebuch schreibt, sondern Gedichte, die sie zunächst in »Little Mags« veröffentlichen und im legendären Punkschuppen CBGB zum Vortrag bringen kann.

»Chelsea Girls«, ursprünglich 1994 erschienen und jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt, wenn auch mitunter etwas ungelenk und schlampig, ist eine ziemlich unordentliche Mischung aus Autobiografie, Szeneporträt, Prosapoem und queerem Manifest. Myles schreibt unchronologisch, springt von den Drogen- und Alkoholexzessen in New York zu ihrer Kindheit in Arlington bei Boston, in einem konservativ-katholischen, aber bildungsfernen Haushalt. Sie erzählt vom Aufwachsen mit einem Alkoholiker-Vater, der früh stirbt, und landet schließlich im Künstler- und Dickdenker-Milieu, wo sie als eine Art Undergound-Sappho mit den Szenestars Robert Mapplethorpe, James Schuyler, Patti Smith, Allen Ginsberg etc. freundschaftlichen Umgang pflegt.

Nicht zuletzt geht es hier immer wieder um wilden, fast schon wütenden, explizit beschriebenen lesbischen Sex. »Ich musste Robin vögeln. Das war mein Job. Sie hatte die größte ... Fotze, Vagina in die ich je meine Finger gesteckt habe. Sie war groß, rot und bedürftig. Ich steckte zwei, drei Finger rein und vögelte sie ohne Ende. Ich hatte schon immer Beschwerden erhalten, dass ich grob sei, aber es kam mir vor, als könnte ich einen Stock in diese Frau reinschieben, einen Ast. Ihr Arsch hing hoch oben in der Luft, es war April und die Bäume waren immer noch ziemlich kahl und ich sah durch die schwarzen rostigen schraffierten Fensteröffnungen meiner East-Village-Wohnung und ich fühlte mich unbeteiligt und ich vögelte sie endlos mit meiner Hand, knetete dabei ihre Nippel. Sie stöhnte und ächzte vor Lust. Was für eine Frau, ich habe noch nie ein derart geiles Tier kennengelernt, noch habe ich jemals zuvor eine Frau so explizit bedient. Hättest du gern meine Faust in dir. Was du willst, kreischte sie, was du willst.«

Das hat mitunter schon etwas Forciertes, als wollte sie - hier versteht sich Myles noch als eine »Sie« und nicht als der non-binäre »Mensch« ihrer späteren Bücher - ihren männlichen Kollegen beweisen, was Sex auch sein bzw. dass sie ihn genauso tough beschreiben kann. Und der Beweis gelingt ihr. Nicht umsonst erscheint das Buch zunächst bei der Black Sparrow Press, Charles Bukowskis Hausverlag. Mit dem teilt sie so einiges, die problematische familiäre Herkunft, die Sauferei, die Down-and-out-Attitüde und nicht zuletzt den Glauben an das Schreiben als existenziellen Rettungsakt. »Das Gedicht wurde während irgendwelcher Jobs geboren, als ich merkte, dass ich nicht gewinnen würde, dass ich in Wahrheit nicht einmal anwesend war. Also richtete ich mich in meinen Gedichten ein und hielt mein Leben für das eines Verlierers, und damit eben auch für poetisch.«

Eileen Myles rollt keine epischen Stoffballen aus. Sie kümmert sich lieber um das Szenische, um lässig hingeschlenkerte Impressionen, atmosphärische Details, Stimmungen und um ihre (nicht nur) erotischen Konfessionen. Ihr Ton ist meistens rüde und kolloquial, klingt manchmal wie ein Tonbandprotokoll auf Speed und erinnert dann wieder an die großen Prahlkempen des Journalismus, Hunter S. Thompson und Lester Bangs. Myles zieht sich aber auch immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Profanität heraus, mythisiert sich etwa zur »Lichtkriegerin«, dann sublimiert sich der Text in ein Prosagedicht.

Bei der Neuauflage von 2015 adelt sie »Chelsea Girls« zur »Novel«. »Wenn man sich die ersten Romane überhaupt anguckt, kommen sie einem vor wie ein Sammelsurium, niemand wusste, was das für Texte sein sollten. Ich würde gern zu diesem Punkt zurückkehren. Ich möchte die Möglichkeiten des Romans als Stückwerk, als Krimskrams wieder zur Geltung bringen«, erklärt sie in einem Interview.

Die ästhetische Freiheit zu schreiben, was sie schreiben wollte, hatte sie sich da allerdings längst genommen, nur eben unter dem Rubrum »Stories«. Die Umwidmung ist nicht mehr als ein gattungspoetologischer Schaukampf. Sie führt eigens ein Genre ein, um sich dann als genrezersprengende Avantgardistin feiern zu lassen. Matthes & Seitz verzichtet denn auch in der deutschen Ausgabe auf die Zuschreibung, es steckt auch so genügend transgressives Potenzial in diesem Buch.

Eileen Myles: Chelsea Girls. A. d. amerik. Engl. v. Dieter Fuchs. Matthes & Seitz Berlin. 252 S., geb., 22 €.

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