• Kultur
  • Sophie Hungers Debütroman

Eine eigene Welt aufbauen

Die Sprache ist unruhig: »Walzer für Niemand«, das Romandebüt der Schweizer Musikerin Sophie Hunger

  • Yaro Allisat
  • Lesedauer: 4 Min.
Walzer tanzen – man kann es oder auch nicht. Brüllen hilft nicht immer.
Walzer tanzen – man kann es oder auch nicht. Brüllen hilft nicht immer.

Schon Sophie Hungers Liedern ist eine ganz spezielle Poesie eigen. Man fragt sich: Was ist das für ein Genre, ist es Jazz, Rock, Pop – oder Techno? Ihr erster Roman heißt wie ein altes Lied von ihr, von 2008: »Walzer für Niemand«, verfasst in ihrer typisch mystisch-poetischen Sprache. Die funktioniert über 180 Seiten genauso gut wie in einem Song von drei oder vier Minuten Länge.

»Niemand« ist der Freund der Ich-Erzählerin. Beide wachsen als Kinder von Militärattachés in der Schweiz auf. Sie müssen viel umziehen und bauen sich eine eigene Welt, in der das Draußen, das die Freundschaft ständig zu bedrohen scheint, nicht existieren soll.

Die Erzählerin entdeckt ihre Liebe zur Musik: Bruce Springsteen, Nina Simone, aber auch Richard Wagner. Damit kann man der Zeit ein Schnippchen schlagen, kann man sie doch immer wieder anhören. Der Gedanke, eine Schallplatte könnte sich abnutzen, je mehr sie gehört wird, erscheint ihr grausam. Es gilt die Grundregel: Die Musik darf nicht unterbrochen werden, sie muss bis zum Ende angehört werden.

Niemand forscht über die Herkunftsgeschichte der Erzählerin, die von den Walserinnen abstammt, einem Schweizer Bergvolk, das keine Kunst oder Kultur kannte, sondern nur die blanke Realität, die aus Geräuschen, Ausblicken und Bewegungen besteht.

Die Walserinnen scheinen ein naturalistisches Idealbild der im Hier und Jetzt überforderten Erzählerin zu sein, die weder der Welt noch irgendeiner Erzählung oder der Sprache selbst vertraut. »Wir mochten (Sprache) nur in ihrer nebulösen, traumwandlerischen Form (…) Nein, nein, wir haben nie von der Sprache erwartet, genau zu sein, wir erkannten sie in ihrer tiefen Unruhe.« Stringente, lineare Geschichten hält sie für »ekelerregend und erstickend«.

Niemand ist eine Zuflucht für sie. Doch je erfolgreicher sie mit ihrer Musik wird, umso mehr entfernen sich die beiden voneinander.

Das Buch ist, anders als es manche Klappentexte oder Rezensionen suggerieren, keine Geschichte einer Freundschaft, sondern die Geschichte eines einsamen Aufwachsens in einer Welt, für die man nicht gemacht ist. Niemand ist körper- und charakterlos und erscheint letztlich durch die Du-Ansprache als bloße Projektion. Hunger selbst gibt keine Lesart vor.

Ihre Sprache ist voller Adjektive und Bilder. Fast nie sind sie eindeutig. Dadurch wird eine eigene Welt aufgebaut, und fast ist unklar, ob man als Leser*in überhaupt bestimmt ist, in sie einzudringen. Regelrecht hineingraben muss man sich in dieses schreibende Bewusstsein, das einem zwar auf intimste Art erzählt wird und trotzdem verschlossen bleibt, das erzählt, sich aber nicht verständlich machen will.

Das ist eine Schreibart, auf die man sich einlassen muss. Versucht man, Sinn hinter jedem Bild zu finden, kommt man nicht weit, dafür sind die Formulierungen zu unklar und antithetisch. Wie auch bei Hungers Songs geht es um das Gefühl, das ein Bild evoziert.

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Hungers musikalische Sprache kann einen davontragen. Gleichzeitig bewegt sich dieser Text an der Grenze zur Überladung und zum Pathetischen. Auch die Introspektion und die Handlungsarmut verstärken dies. Das ist kein Buch, in welchem man in fünf freien Minuten schmökern kann. Ist man einmal in der Sprachwelt des Textes, lässt er sich gut lesen; ist man zu abgelenkt, fällt er zusammen wie ein Kartenhaus.

Die Themen ähneln denen aus Hungers Liedtexten. Es gibt die Sehnsucht nach einer unbeschreibbar klaren Welt, das Alleinsein und die Vergänglichkeit der Zeit spielen eine Rolle. »Es gibt eine Theorie unter Songwritern – ich weiß nicht, ob das vielleicht bei Schriftstellern sogar ähnlich ist –, die lautet: Ihr schreibt eigentlich immer dasselbe Lied, nur in anderen Variationen«, sagte Hunger in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Sie habe sich gefragt, »welcher Song das bei mir sein könnte, der phänotypisch für alle meine Werke steht«. So sei sie auf diesen Titel für ihren Roman gekommen.

Trotzdem ist es eine Geschichte, die von fiktiven Personen handelt. Rezensenten, die hier bei einem von einer Frau geschriebenen Buch wieder einmal autobiografische Züge oktroyieren wollen, unterschätzen das Buch.

Sophie Hunger: Walzer für Niemand. Kiepenheuer & Witsch, 192 S., geb., 22 €.

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