Schwermut und Tanzlust

Die Spreeagenten erzählen bei einem szenischen Spaziergang in Berlin-Mitte Lebensgeschichten von Verfolgten des NS-Regimes

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine Frau, die manchmal von stummer Traurigkeit war, manchmal von »hopsender Tanzeslust«: So wird Oda Schottmüller in der ersten Szene des Stücks »Häuser-Fluchten« beschrieben.

Die Tänzerin und Bildhauerin kam 1928 mit Anfang zwanzig nach Berlin - und trat auch in der Volksbühne auf. Sicher ist sie häufig am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz vorbeigelaufen - genau dort, wo an diesem Abend 50 Menschen in einem losen Haufen stehen und ihrer Geschichte lauschen.

Die Spreeagenten, die am Mittwoch mit ihrem Stations-Theaterstück unter der Regie von Susanne Chrudina Premiere feierten, haben sich mit den Schicksalen von Unangepassten und Unerwünschten beschäftigt, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden.

Die vier Darsteller*innen erzählen Geschichten, die sich in Berlin-Mitte, im sogenannten Scheunenviertel zwischen Hackeschem Markt und Rosa-Luxemburg-Platz, zugetragen haben. Sie spielen, singen und tanzen auf Grünflächen, Bordsteinen, Schul- und Kirchhöfen - und inszenieren damit Ereignisse dort, wo sie stattgefunden haben.

Zwischen den weit voneinander entfernt stehenden Zuschauer*innen lassen die Schauspieler*innen zerknüllte Zettel fallen. »Niemand kann mehr die Augen verschließen vor der Ungeheuerlichkeit des Geschehens«, steht auf einem. Eine Behauptung, die sich nicht bewahrheitet hat.

Jelena Bosanac lässt in der ersten Szene mit tänzerischen Bewegungen Oda Schottmüller auftreten, die ab 1936 der antifaschistischen Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack angehörte. 1943 wurde sie im Zuchthaus Berlin-Plötzensee enthauptet.

Auf dem Weg durch das Scheunenviertel wird das Publikum mit dem Schicksal ehemaliger Bewohner*innen konfrontiert. Anfangs scheinen die Zuschauer*innen noch unsicher. Trotz Stadtplan in der Hand schauen sie sich um: Wo gehen die anderen hin?

Begleitet werden die Spaziergänge zwischen den Stationen von Hörstücken, die die Besucher*innen mit einer vorher heruntergeladenen App auf ihren eigenen Smartphones abspielen. Sie hören Beschreibungen, Zitate und biografische Notizen - darunter Texte von Alfred Döblin, Hannah Arendt und Georg Simmel.

Spannend ist der Kontrast zwischen Gehörtem und Gesehenem. Vor dem inneren Auge entwickelt sich ein Bild jüdischen Lebens im Scheunenviertel: hebräische Inschriften an den Häusern, Fleischhauer, Lagerplätze für Alteisen, Handwerksstuben und Buchläden; im Gewusel auf den unruhigen Straßen zwischen alten, verwinkelten Häusern Kaftan tragende Männer.

Die Realität sieht anders aus: eine Schlange adrett gekleideter Menschen vor einem schicken Eisladen, Wein- und Delikatessengeschäfte, Läden mit teurem Nippes, thailändische Lokale und Friseure mit minimalistischer Einrichtung.

Erzählt wird von Gaststätten wie der »Mulackritze«, benannt nach der engen Straße, in der sie sich befand. Arbeiter*innen, Künstler*innen, Lesben und Schwule trafen sich einst in den unterschiedlichen Etablissements des Scheunenviertels. In der NS-Zeit war es mit der Offenheit vorbei: Homosexuelle wurden verfolgt, Kneipen geschlossen.

Die Spreeagenten, eine 2007 gegründete Theater- und Performance-Gruppe, lassen diese Zeit lebendig werden - einschließlich der erschreckenden Verbrechen der Nationalsozialisten.

An der Gormannstraße berichten sie von Margot Friedländer, die aus Angst vor Verfolgung untertauchte. Sie lebte in Verstecken, färbte sich die Haare und ließ sich sogar die Nase operieren, um weniger »jüdisch« auszusehen. Schließlich wurde sie dennoch aufgegriffen und nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte das Lager und setzt sich bis heute als Zeitzeugin gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus ein.

Jelena Bosanac, Richard Gonlag und Željko Marović schlüpfen in unterschiedliche Charaktere und spielen teilweise konkrete, teilweise assoziative Szenen. Daniela Lunelli aka Munsha begleitet das Stück am Cello und mit ihrem wunderbaren, wehmütigen Gesang.

Die Spreeagenten spielen häufig außerhalb von Theatern und haben deshalb Erfahrung mit ungewöhnlichen Orten, was in Corona-Zeiten von Vorteil ist. In den Straßen von Berlin-Mitte vor verstreutem Publikum zu spielen, ist trotzdem eine Herausforderung. Die Schauspieler*innen müssen sich gegen Straßenlärm und Fußballgebrüll behaupten - was manchmal besser, manchmal schlechter gelingt.

Eindrucksvoll ist der Bezug zu Originalschauplätzen - etwa wenn Richard Gonlag in der Sophienkirche einen Mann spielt, dessen jüdischer Vater dort getauft wurde. »Nur sehr wenige Pfarrer waren bereit, Juden zu taufen«, erzählt er. Innerhalb der Familie gab es unterschiedliche Religionszugehörigkeiten - was kein Problem war. Die Große Hamburger Straße wurde »Toleranzstraße« genannt, berichtet Gonlag. Denn jüdische, protestantische und katholische Einrichtungen koexistierten dort friedlich.

Die Straßen Berlins sind mehr als eine spannende Kulisse - sie sind stumme Zeitzeugen für das, wovon die Spreeagenten berichten. Nicht immer einfach ist das Umschalten zwischen Audio-Spur und gespielten Szenen - im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne. Es braucht Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit für den mehr als dreistündigen Spaziergang, in dessen Verlauf sich aus den szenischen Schlaglichtern ein kaleidoskopartiges Bild zusammensetzt. Die Materialfülle ist beeindruckend, aber auch erschlagend. Manche der porträtierten Personen erscheinen plastisch, anderes bleibt bruchstückhaft.

Gegen Ende, wenn die Sonne untergeht und der Lärm der Stadt langsam abebbt, liefern die Spreeagenten noch ein paar eindrückliche, stimmungs- und wirkungsvolle Momente. Der Abend endet auf dem Hof der Neuen Synagoge Berlin - Centrum Judaicum. Im Halbdunkel liegt die karge Fläche, einzelne Scheinwerfer werfen Licht auf den grauen Schotter. Daniela Lunellis schwermütiger Gesang erklingt, während die Besucher*innen langsam durch die Schleuse und dann hinaus zum Spielort strömen.

Erfüllt von Geschichten und Eindrücken wird das Publikum in den Abend entlassen. Die Stimmung scheint ambivalent: gedrückt vom Gehörten, aber aufgehellt von der nicht mehr selbstverständlichen Tatsache, Theater erlebt zu haben. Die Spreeagenten empfehlen, einen Klappstuhl mitzubringen. Denn der Weg durch die Vergangenheit ist kein unbeschwerter - weder für den Kopf noch für die Beine.

Nächste Vorstellungen: 23. August, 2./3./6. September, 18.30 Uhr

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