Patt in Minsk

In Belarus wird seit fast zwei Wochen gegen Alexander Lukaschenko protestiert. Lange schien es so, als seien die Tage des Autokraten im Amt gezählt. Doch der Präsident ist noch nicht gescheitert

  • Denis Trubetskoy
  • Lesedauer: 5 Min.

Am vergangenen Wochenende haben die Proteste gegen den angeblichen Wahlbetrug des seit 1994 regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko neue Maßstäbe erreicht. Mindestens 100 000 Menschen gingen in der Hauptstadt Minsk auf die Straßen, derart große Oppositionsdemos hatte es in Belarus zuvor noch nicht gegeben. Doch obwohl die Opposition nach diesem Erfolg zu einem Generalstreik aufrief und mit dem eigenen Koordinationsrat eine parallele Machtstruktur etablierte, ist das System Lukaschenko noch lange nicht am Ende.

»Wir erleben gerade ein Gleichgewicht der Kräfte«, fasst der renommierte belarussische Politologe und Historiker Walerij Karbalewitsch die Woche nach dem großen Protest am Sonntag gegenüber dem »nd« zusammen. Trotz der offensichtlichen Überzahl der Lukaschenko-Kritiker ist es noch vollkommen unklar, in welche Richtung sich die Lage entwickelt.

»Ein Kompromiss ist kaum möglich, weil Lukaschenko jegliche Verhandlungen mit der Opposition ausschließt. Der Konflikt wird durch den klaren Sieg einer der Parteien entschieden. Die Protestierenden haben dabei ein deutliches Führungsdefizit«, analysiert Karbalewitsch.

Als die belarussische Polizei zwischen dem Wahltag am 9. August und dem 12. August rund 7000 Menschen oft auf brutalste Art festnahm, war die dezentrale Taktik der Opposition, durch die Kanäle im Messengerdienst Telegram koordiniert, noch ein Vorteil. Nun läuft der Protest bereits seit mehr als einundeinhalb Wochen - und langsam wird den Demonstranten klar, dass spätestens jetzt eine Führung notwendig wäre. Aus dem Frauentrio um die Kandidatin Tichanowskaja ist lediglich Marija Kolesnikowa, Wahlkampfmanagerin des ursprünglich wichtigsten Gegners von Lukaschenko Wiktor Babariko, noch im Land. Kolesnikowa ist nun auch Mitglied im Präsidium des Koordinationsrates und macht dort aktiv mit. Sie zeigte sich stets als gute Organisatorin, doch die Rolle der Anführerin peilt sie offenbar nicht an.

Der Koordinationsrat, der sich mit der Übergabe der Macht und der Ansetzung von Neuwahlen beschäftigen soll, brachte zwar mit dem Ex-Kulturminister Pawel Latuschko eine neue Führungsfigur auf die politische Bühne. »Das ist aber alles nicht ernst genug«, sagt ein Unterstützer aus Minsk. »Wir haben keinen entschlossenen Anführer, dort sitzt nur die Intelligenz. Darum könnte der Protest schnell zu seinem Ende kommen.«

Bis zu einer neuen Großdemo an diesem Sonntag hat die Opposition ihre Straßenaktivitäten zum größten Teil ausgesetzt. Dies hätte eine gute Strategie sein können, wäre der Plan eines landesweiten Generalstreiks aufgegangen - auch weil die aktuell schwache belarussische Wirtschaft das Stillstehen der wichtigsten Unternehmen nur kurz hätte aushalten können. Doch obwohl fast an allen großen Betrieben und Fabriken Menschen protestieren, steht kaum ein Unternehmen still. »In unseren Betrieben sind sowieso mehr Menschen als nötig eingestellt, damit sie überleben können«, sagt Präsident Lukaschenko dazu. Die Angst, entlassen zu werden, ist in der Tat groß.

Auch der Sicherheitsapparat Lukaschenkos meldet sich zurück. Obwohl die Straßenproteste der Opposition vorerst kleiner werden, gibt es seit dieser Woche wieder mehr Festnahmen. Außerdem wird bereits gegen den Koordinationsrat der Opposition ermittelt, der in einer Resolution Neuwahlen fordert und die Teilnahme Lukaschenkos nicht ausschließt. Gleichzeitig versucht der Autokrat, nach der eher misslungenen regierungsfreundlichen Demonstration am Sonntag, auch in den Regionen eigene Kundgebungen zu organisieren. Im Vergleich zu den Aktionen der Opposition sehen diese kleiner aus, eine Blamage sind sie allerdings nicht und müssen ernstgenommen werden.

Der größte Wandel findet indes in belarussischen Staatsmedien statt. Seit neuem wird die Opposition gerne als radikal und antirussisch abgestempelt. Die Grundlage dafür ist meist das Programm, das von alten, nationalistischen Oppositionellen für die Herausforderin von Lukaschenko, Swetlana Tichanowskaja, entwickelt wurde. Es ist also keineswegs das ureigene Programm Tichanowskajas. Unter anderem geht es dabei um den Bruch mit Russland und um die starke Belarussifizierung des vom Russischen dominierten sprachlichen Raums. »Derjenige, der eine Mauer zwischen Belarus und Russland bauen wird, wird zum letzten Politiker in der Geschichte des Landes«, sagt Pawel Latuschko vom Koordinationsrat dazu. »Russland ist doch der wichtigste Exportmarkt.«

Die Staatsmedien hätten nun zum zweiten Mal ihre Rhetorik im Bezug auf die Proteste verändert, meint Boris Gorezkij vom unabhängigen Belarussischen Journalistenverband. »Vorerst bezeichneten die Staatsmedien die Demonstranten einfach als Banditen, dann kam eine stillere Phase, die Protestierenden kamen in den Berichten sogar ab und zu vor.« Doch jetzt arbeiteten sich die Staatsmedien an der angeblichen prowestlichen und antirussischen Haltung der Opposition ab, die sich für den EU- und Nato-Beitritt aussprächen. Das wird von der Opposition aber gar nicht gefordert, vielmehr betrachten viele die EU als zweitwichtigsten Absatzmarkt nach Russland und möchten eine gewisse Annäherung. Gleichzeitig wird ständig betont, dass man die Beziehungen mit Moskau keinesfalls gefährden möchte.

»Beim Staatsfernsehen haben tatsächlich viele gestreikt«, erzählt er. »Bei den meisten davon wurde der Passierschein annulliert, stattdessen hat man sich aus den Regionalanstalten Verstärkung geholt, und auch aus Russland. Wie viele aus dem Nachbarstaat kamen, ist noch schwer einzuschätzen, aber die gibt es tatsächlich.« Dieses neue Personal würde laut Gorezkij wohl ohnehin alles machen, was aus der Präsidialverwaltung angeordnet wird.

Jetzt kommt es zunächst einmal auf die Großdemo der Opposition am Sonntag an. Diesmal rufen die Telegram-Kanäle wie Nexta die Menschen in den Regionen dazu auf, nicht nur in ihren Städten zu demonstrieren, sondern auch nach Minsk zu kommen.

Das belarussische Ermittlungskomitee lädt dagegen die Mitglieder des Koordinationsrates bereits zu Gesprächen vor. Dieser wurde wohl auch deswegen kürzlich bis auf 70 Mitglieder vergrößert, damit die Behörden nicht zur gleichen Zeit gegen alle vorgehen können. Andererseits gibt es wenig Hoffnung, dass die Streiks noch zu einem richtigen Erfolg werden, trotz der von der Opposition versprochenen Entschädigung für die entlassenen Mitarbeiter. Der Protest behält die Mehrheit, Lukaschenko hat aber sein Sicherheitsapparat und sowie die Staatspropaganda auf seiner Seite. In Minsk herrscht eine Pattsituation - zumindest bis Sonntag.

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