Monique verlässt den Salon

Die «Neue Frau» bricht mit der Bourgeoisie

  • Lesedauer: 9 Min.

Wie rücksichtslos!«, meinte Madame Lerbier, als sie die breite Freitreppe des Ministeriums herunterstieg. »Dein Vater hat das Auto dabehalten. Wenn Lucien uns schon nicht nach Hause bringen kann, hätte er wirklich daran denken dürfen, dir seinen Wagen zurückzuschicken.«

»Ach, wir werden schon ein Taxi finden!«

Victor Margueritte

Paris, in den 1920er Jahren: Monique Lerbier, Tochter aus reichem Hause, weigert sich, den Mann zu heiraten, den ihr Vater in einem Mitgifthandel für sie bestimmt hat. Auch bei ihrer Mutter, die mit 50 nur ein einziges Lebensziel hat - so auszusehen wie 30 - findet sie keine Unterstützung. Angewidert von den Ränkespielen der Bourgeoisie, bricht Monique mit ihrer Familie und entwickelt sich zur emanzipierten, unabhängigen Garçonne. Sie steht finanziell auf eigenen Beinen und stürzt sich kopfüber ins rauschhafte Leben der Pariser Boheme, wo die freie Liebe lockt und das Opium ... Der in zwölf Sprachen übersetzte Kult-Bestseller zeigt die Geburtsstunde der »neuen Frau« und bietet eine faszinierende Zeitreise ins Paris der wilden Zwanzigerjahre.

Er galt damals als der Skandalroman. Kurt Tucholsky schrieb seinerzeit »Dieses Buch hat den europäischen Kontinent überschwemmt, es liegt auf den Nachttischen der Junggesellen und wird unter den Kopfkissen der Damen verborgen und ist überall.«

Victor Margueritte (1866-1942) war engagierter Pazifist und gemeinsam mit seinem Bruder Paul ein vehementer Verfechter der Gleichberechtigung der Frau. Das Erscheinen seines Buches La Garçonne löste 1922 in Frankreich einen Skandal aus. Konservative Sittenwächter forderten ein Verbot des Buches und der Autor wurde in der Folge aus der Ehrenlegion entlassen. 1926 arbeitete Margueritte seinen Roman für das Theater um. Das Stück wurde am 6. Juli im Théâtre de Paris uraufgeführt. Es folgten Verfilmungen in den Jahren 1936 und 1957.

»Diese Karren kann ich nicht ausstehen! Erstens sind sie schmutzig, und zweitens ist man alle paar Minuten in Lebensgefahr …«

»Vielleicht gehen wir zu Fuß?«

Sie lachte. Ihre Mutter sah sie missvergnügt an.

»Wenn du kein Taxi magst, Mama, drüben auf der anderen Seite der Brücke ist die Tram …«

»Wie geistreich.«

Monique kannte doch ihren Abscheu gegen alle öffentlichen Transportmittel: dieses Gedränge und die Langsamkeit … es stank darin und es dauerte endlos!

Sie zuckte die Achseln: »Du musst doch zugeben, dass eine gute Limousine …«

»Selbstverständlich! 100.000 Francs Zinsen sind besser als 50.000, 50.000 besser als 25.000 und so weiter … Aber ein Auto … Ich würde Lucien ebensogern heiraten, wenn er keines hätte.«

Madame Lerbier höhnte: »Ein Herz und eine Hütte! Du bist idealistisch und noch jung. Ich möchte dich mal hören, wenn du erst eine heiratsfähige Tochter hast …«

Sie seufzte: »Ruf den da … Ruf ihn doch! … He! Chauffeur …«

Verächtlich fuhr der Mann vorbei, ohne zu antworten.

»So ein Rüpel! … Bolschewist!«

Sie rief ihre Tochter als Zeugin an:»Da siehst du, wohin uns dein Sozialismus führt!« Verzweifelt sah sie die Straße entlang, durch die ein scharfer Wind fegte, als auf einen Ruf des Portiers ein elegantes Coupé gerade neben ihnen am Bürgersteig vorfuhr.

Gleichzeitig rief Michelle Jacquet, die hinter ihnen aus der Tür trat, sie an: »Madame! Madame! Soll ich Sie nach Hause bringen?«

»Wie?«, staunte Madame Lerbier. »Sie sind allein?«

»Madame Bardinot, der meine biedere Mutter mich anvertrauthatte, hat sich von Leo entführen lassen.«

Madame Lerbier platzte heraus: »Natürlich!«

»Oh!«, sagte Michelle, während sie sich auf den Rücksitz setzte, »ich glaube, das dauert nicht mehr lange; Leo macht Ginette schöne Augen … Leicht möglich, dass man ihn zur Strafe auswechselt … Was, Monique?«

»Ich habe nichts bemerkt!«

»Die hat nur Augen für ihren Lucien. Mich hindert mein Verlobter nicht daran, die Augen offenzuhalten! Das Marquisat von Entraygues blendet nur Mutter Jacquet! Für meine Mitgift hätte sie schließlich auch einen Herzog haben können! …«

Madame Lerbier girrte schockiert: »Aber Michelle! Wenn Ihre verehrte Mutter hören könnte, wie Sie von ihr und ihrem Schwiegersohn sprechen …«

»Dann würden ihr die Ohren abfallen!«

»Die jungen Mädchen von heute haben vor gar nichts mehr Respekt! Übrigens, warum haben wir eigentlich nicht das Vergnügen gehabt, Ihren Bräutigam zu sehen?«

»Mama hat doch heute ihren Donnerstag!«

Von dieser Feierlichkeit pflegte sich Michelle, wenn es irgend anging, zu drücken. Eine Vereinigung alter und junger Herren, die sich Geld pumpen oder aufspielen wollten … Man traf dort auch Blaustrümpfe verschiedenster Schattierung - Madame Jacquet, Verfasserin eines kleinen Bändchens mit Sinnsprüchen, gehörte der George-Sand-Gesellschaft an. Madame Lerbier wiederholte reuevoll: »Ach ja, ihr Donnerstag.«

So wenig sie Madame Bardinot mochte, obwohl sie ihr schmeichelte - so sehr verehrte Madame Lerbier die schwerreiche Madame Jacquet. Diese war eine in die Jahre gekommene Tänzerin, die sich schließlich durch ihre legendären Perlencolliers und ihre Villa in der Avenue du Bois einen Botschafter als Gatten aus den Bordellen gefischt hatte. Während des Kriegs war er dement verstorben, und majestätisch trug sie immer noch Halbtrauer um ihn, als den offiziellen Vater Michelles, die sie mit allem übrigen in die Ehe gebracht hatte. Durch ihren hochanständigen Salon, in dem sowohl der Nuntius als auch der Senatspräsident verkehrte, war Madame Jacquet zu einer Instanz geworden. Sie schuf Académiciens und löste Ministerien auf.

Während die ganz in ihre Träumereien versunkene Monique die Klatschereien, mit denen Michelle ihre Freundinnen schlecht machte, nur einsilbig beantwortete, ließ Madame Lerbier sich behaglich wiegen. Ein ausgezeichneter Wagen, nach dem anstrengenden Nachmittag … Ausstellung englischer Porträts - dieses Gedränge! Man konnte überhaupt nichts sehen! … Dann der neue Tanztee in der Rue Daunou … kein Tisch frei! … Und schließlich hatte die Stunde von fünf bis sechs auf Rogers Diwan sie gänzlich geschafft … Ein Schauer lief ihr von den Haarwurzeln den Rücken hinab. Geheimnisvoll lächelte sie dem schmalen Spiegel zu, der ihr über dem Necessaire aus Gold und Kristall ihr volles Gesicht zeigte. Die Falten waren dank des geschickt aufgetragenen Make-ups und der intensiven Massagen nicht sichtbarer als die Spuren der Küsse, die vorhin …

Madame Lerbier, die sich ausschließlich mit ihrer eigenen Person beschäftigte, hatte mit ihren 50 Jahren nur den einen Lebenszweck: auszusehen wie 30. Sie war eine nachlässige Hausfrau und ließ ihr Hauswesen unbekümmert laufen, wie es wollte, wenn nur jeden Monat das nötige Geld da war. Was ihr Mann dachte oder tat? Das kümmerte sie so wenig wie das Gefühlsleben ihrer Tochter. Trotz - oder wegen - ihres offensichtlichen Egoismus hieß sie aber allgemein die schöne, die gute Madame Lerbier. Sogar die bösen Mäuler verschonten sie, dank ihrer aufrechten Haltung, ihrer Geschicklichkeit, sich den Anschein zu geben, nur für andere zu leben.

»Auf Wiedersehen, mein Schätzchen, bis morgen!«, sagte Michelle und küsste Monique. »Wir treffen uns doch im Theater? Auf Wiedersehen, Madame.«

»Meine besten Grüße an Ihre Mutter.«

»Sie können ganz beruhigt sein. Sie wird strahlen, wenn sie hört, dass wir zusammen nach Hause gefahren sind. Sie ist völlig vernarrt in Sie.«

Madame Lerbier schwelgte noch in diesem Lob, als sie an ihrem livrierten Portier vorüberschritt, der sich tief verbeugte. Diese Bekundungen gesellschaftlicher Hochachtung, die sie auf der höchsten wie auf der niedrigsten Stufe genoss, benötigte sie ebenso dringend wie die Luft zum Atmen. Sie hatte keine Ahnung, dass es auch eine andere Atmosphäre geben konnte als die jener Vorurteile, in der und für die sie lebte …

Der Aufzug hielt ratternd. Gleichzeitig öffnete sich die Wohnungstür. Es war Tante Sylvia, die eben vorsichtig zu Fuß die Treppe heraufgestiegen war und ihr Kommen gehört hatte.

»Siehst du«, scherzte Madame Lerbier, als sie ihrer Schwester ansichtig wurde, »wir leben noch!«

Die alte Jungfer hatte von ihrer ländlichen Einsamkeit her vor zweierlei Angst: vor diesen hängenden Käfigen mit ihren vielen Druckknöpfen und ihrem Auf und Ab der Seile - und davor, mitten zwischen Autos und Omnibussen die Straßen überqueren zu müssen.

»Euer Paris«, erklärte sie, »ist die reinste Schreckenskammer!«

Monique tätschelte ihr die Hand, umarmte sie und fragte dann: »Hast du dich wenigstens im Theâtre Français gut unterhalten?«

Tante Sylvia leistete sich jedes Mal, wenn sie zu Besuch kam, eine Klassikervorstellung.

»Das ist das Einzige, was du in Hyères entbehrst … Sonst wäre es der Himmel auf Erden. Gesteh es!«

»Ich gestehe!«

Monique küsste nochmals das alte verrunzelte Gesicht. Hyères! … Ja … die friedliche Vergangenheit stieg in ihrem dankbaren Geist wieder auf. Ihr Schulmädchenzimmer, die Klasse mit dem Blick ins Blaue … Und der Garten und der große Felsen! Ein Aussichtspunkt, von dem aus sie die Welt zu entdecken geglaubt hatte.

»Schau, mein Häschen«, sagte Tante Sylvia, »wie viel Post du hast … sieh nur …«

Monique nahm einen ganzen Packen Briefumschläge von einem Lacktablett und warf einen Blick darauf.

»Nichts! Lauter Kataloge!«

Sie amüsierte sich über die Adresse, dort stand schon Madame Vigneret - neben ihrem seltsam verstümmelten Mädchennamen. Offerten aller Art, von der Visitenkarte der Detekteien (schnell, diskret) bis zu den Gratulationen der Gemüsefrauen und den Büstenhalterreklamen …

»Findest du diese Art von Reklame nicht unanständig, Tante? Ich finde, man sollte junge Eheleute in Ruhe lassen. Diese Zeremonie geht doch schließlich nur sie allein an. - Komm! Wir unterhalten uns noch ein bisschen, während ich mich umziehe. Es tut mir so wohl, offen mit jemand reden zu können.« […]

In einem plötzlichen Bedürfnis nach Ausgelassenheit fasste Monique ihre verblüffte Tante um die Taille, begann mit ihr zu tanzen und sang dazu. Dann brach sie in Lachen aus und küsste die Tante, die sie mit liebevollem Blick gewähren ließ …

»Uff!«, sagte Tante Sylvia und setzte sich wieder.

Nun richtete Monique mit erhobenen Armen ihre Frisur, wobei die langen Ärmel ganz zurückglitten und die hellen Achselhöhlen sehen ließen. Mit ihrer jungen, geschwellten Brust glich sie einer Statuette der Victoria am Bug ihres Schicksalschiffes.

»Hast du gesehen, dass ein Brief unter den Drucksachen war?«, fragte Tante Sylvia. Sie drehte ihn in der Hand. »Er sieht eigentümlich aus.«

»Nein! Zeig mal! …«

Der dicke luftgepolsterte Umschlag, die offenbar verstellte Handschrift … Das sah nach einem anonymen Brief aus … Monique öffnete ihn mit angewidertem Gesicht.

»Na?«, rief Tante Sylvia beim Ausdruck des Staunens und dann der erregten Röte auf Moniques Wangen.

»Da! Lies selbst!«

»Ich habe meine Brille nicht zur Hand. Lies vor, ich höre.«

Mit verächtlichem Ton, durch den aber nach und nach unwillkürliche Besorgnis klang, las Monique:

»Mademoiselle!

Es ist traurig zu denken, dass man ein junges Mädchen wie Sie derartig betrügen will. Der Mann, den Sie heiraten, liebt Sie nicht, er macht nur ein gutes Geschäft …

Sie sind nicht die Erste. Er hat schon andere auf dem Gewissen! Wenn Sie mir nicht glauben wollen, erkundigen Sie sich bei Madame Lureau, Rue Vaugirard 192. Das ist die Mutter von einem Mädchen, das er verführt und dann verlassen hat, nachdem sie ihm ein Töchterchen geboren hatte …

Jetzt hat er auch noch eine Mätresse, Cleo heißt sie. Er besucht sie alle Tage. Sie weiß von nichts und sie lieben sich sehr. Ich hielt es für meine Pflicht, Sie aufzuklären.

Eine Frau, die Sie bedauert …«

Victor Margueritte:
La Garçonne
Aus dem Französischen von Joseph Chapiro, überarbeitet von Sophia Sontag
Verlag ebersbach & simon
304 S., geb., 22,00 €

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