Kein Weg ohne Wiederkehr

Ein Mülheimer Pflegeheim zeigt, wie ältere Menschen auch nach einem Klinikaufenthalt wieder selbstständiger werden können

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Haus Ruhrgarten liegt idyllisch am Flussufer im Grünen. Hierher kam Herbert Hanser nach einer abgebrochenen Reha. Der Rentner hatte zuvor eine neue Herzklappe und einen Herzschrittmacher erhalten. In der Reha erkrankte er nach wenigen Tagen an Gürtelrose und konnte plötzlich nicht mehr laufen. So musste er, jetzt mit Pflegegrad vier, ins Pflegeheim. Zunächst schaffte er es hier, mit einem Rollator drei, vier Schritte zu machen. Eine Therapie folgte der anderen, bis Hanser schließlich mit Hilfe eines Stocks wieder gehen konnte. Nach insgesamt sieben Monaten konnte er nach Hause entlassen werden. Dort lebt er zwar eingeschränkt, kann aber mit dem Stock im Haus sogar Treppen bewältigen.

Hanser ist nur einer von jährlich 70 Patienten, die aus dem Heim der Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr nach der stabilisierenden Pflegephase wieder in ihre eigenen vier Wände zurückkehren können. Gemeinsam ist den Betroffenen, dass sie zuvor eine stationäre Krankenhausbehandlung durchgestanden haben. Der Ansatz der Einrichtung ist laut Michael Rapp von der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie ein besonderer und wird nur in wenigen Pflegeheimen in Deutschland umgesetzt. Zusammengefasst wird er unter dem Begriff »therapeutische Pflege«. Das heißt nicht nur, dass hier mehr Physio- und Ergotherapeuten sowie Logopäden als anderswo zum Einsatz kommen.

Oskar Dierbach von der Pflegedienstleitung des Hauses erläuterte am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Berlin die Abläufe. Zunächst gibt es ein Eingangskonsil. Bei dieser Beratung kommen Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte zusammen, um die Situation und Therapien für neu aufgenommene Patienten zu beraten. Der wichtigste Teilnehmer, so meint Dierbach, ist dabei der Apotheker. »Denn all die Medikamente, die nach einem Krankenhausaufenthalt eingenommen werden sollen - das grenzt oft schon an Körperverletzung.« Der Apotheker erläutert die Wechselwirkungen der Mittel, die Ärzte überlegen, was sie davon am ehesten für verzichtbar halten. Oft bedeute das Absetzen von bestimmten Medikamenten, dass die Pflegebedürftigen überhaupt wieder ansprechbar oder therapierbar werden. Dazu brauche es allerdings viel und engagiertes Personal.

Dienstleiter Dierbach weist ausdrücklich auf die Leistung der Pflegekräfte hin: »Sie bekommen mit, was einen Menschen bewegt. Sie erkennen den richtigen Moment, an dem Veränderungen möglich sind.« Auch seien sie entscheidend dafür, den Motivationsschlüssel der Pflegebedürftigen zu finden. Das kann der eigene Garten sein, vermittelt über Blumen, die der Ehepartner zum Besuch mitbringt. Dann wüssten gute Pflegekräfte, was zu tun sei, weil sie es von Therapeuten an ihrer Seite gelernt hätten. Laut Dierbach ist außerdem entscheidend, über Dauer, Belastung und Zeitpunkt der Therapien die Bewohner selbst bestimmen zu lassen. Ihre Tagesform sei der Maßstab.

Eine derartige therapeutische Pflege mit rehabilitativen Ansätzen erfordert die Vernetzung der beteiligten Berufsgruppen. Mitarbeiter, die mit dem Herzen dabei sind, so Dierbach, »bekommen wir nicht für alles Geld der Welt. Aber wir kriegen sie, wenn wir sie machen lassen und ihnen die Rahmenbedingungen schaffen.«

Die Einrichtung in der 170 000-Einwohner-Stadt im westlichen Ruhrgebiet gilt laut Psychiater Rapp als Beste-Praxis-Beispiel. Denn von den Älteren, die akut ins Krankenhaus müssen, bleiben 40 Prozent nach einer Kurzzeitpflege dauerhaft im Pflegeheim. Ein Rehaaufenthalt ist mit drei bis vier Wochen meist zu kurz, um diese Patienten wieder auf die Beine zubringen. Die überwiegende Mehrzahl von 106 aus dem Haus Ruhrgarten wieder entlassenen Bewohnern war dort nur bis zu drei Monate.

Auch frühere Studien belegten den Sinn von mehr therapeutischen Angeboten in der Pflege, so Rapp. Die Menschen gewännen an kognitiven Fähigkeiten, Lebensqualität und Alltagsfähigkeiten. Für den Gerontopsychiater ist es plausibel, dass sie dann eher wieder in der Lage sind, in ihr Zuhause zurückzukehren. Das ist nicht nur für jeden Einzelnen besser, sondern schlägt sich auch in den Kosten der Einrichtungen nieder. So lagen in den letzten drei Jahren die durchschnittlichen Kosten je Bewohner im Haus Ruhrgarten um 37 Prozent unter jenen von 1117 anderen Pflegeheimen im Bezirk Nordrhein. Ausfinanziert sind die zusätzlichen Therapien über die üblichen Verschreibungsmöglichkeiten hinaus noch nicht. Bis jetzt kommt in Mülheim ein Förderverein dafür auf.

Damit der Ansatz in die Regelversorgung aufgenommen werden kann, sollen dessen Elemente jetzt in 20 weiteren Heimen in Hamburg und im Rheinland eingeführt werden. Finanziert wird das aus Mitteln des bundesweiten Innovationsfonds für das Gesundheitswesen. Das Grundproblem bleibt, dass ein stärkerer Einsatz von Personal und nichtmedikamentösen Therapien im aktuell vorgegebenen Nebeneinander von Pflege- und Krankenversicherung nur schwer möglich ist.

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