Sie haben noch einen Koffer in Berlin
»Abgetaucht in Venezuela« erzählt die Geschichte von drei ehemaligen Linksradikalen
Zwei Männer stehen mit angewinkelten Händen am Straßenrand, als würden sie trampen. Einen von ihn dürften Fans der linken Band Irie Révoltés gleich erkennen. Es handelt sich um deren langjährigen Sänger Mal Élevé, der mittlerweile eine Solokarriere gestartet hat. Dem linkspolitische Anspruch ist er treu geblieben. Der zweite Mann auf der Aufnahme ist Thomas Walter, der in den frühen 1990er Jahren in der außerparlamentarischen Linken aktiv war. 1995 ist er mit zwei Gesinnungsgenossen abgetaucht, nachdem ein geplanter Sprengstoffanschlag auf ein im Bau befindliches Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau kurz vor der Ausführung von der Polizei entdeckt worden war.
Alle drei Männer mussten schnell verschwinden und hatten keine Zeit mehr, Spuren zu verwischen. Dennoch währte es mehr als 20 Jahre, bis bekannt wurde, dass sie in Venezuela leben. Noch immer versucht die deutsche Justiz, die Haftbefehle zu vollstrecken. Eine Rückkehr nach Deutschland kommt daher für die drei nicht infrage. Im digitalen Zeitalter gibt es jedoch andere Möglichkeiten, Kontakte zu pflegen. Auf diese Weise lernten sich denn auch Walter und Élevé kennen. Sie entdeckten, dass sie die gleichen musikalischen Vorlieben haben. Zunächst teilten sie Musiktracks per Internet, bis schließlich Élevé nach Venezuela reiste, um gemeinsam mit Walter eine Platte einzuspielen.
Regisseur Sobo Swobodnik nahm diese Reise zum Anlass für seinen Dokumentarfilm »Gegen den Strom - Abgetaucht in Venezuela«. Es wird eingangs gezeigt, wie Élevé vom Flughafen mit viel Gepäck zum Domizil des Freundes auf dem Land fährt und die beiden sich dort erstmals leibhaftig begegnen. Fortan verbringen sie viel Zeit miteinander. Man sieht sie beim gemeinsamen Kochen, bei Spaziergängen, beim Schwimmen und immer wieder auch bei den Musikaufnahmen. Sie reden über vieles, auch über die Situation der Linken in Deutschland. Mehrmals fällt der Strom aus. Dann muss schnell der Generator angeschmissen werden, den Élevé aus Deutschland hat und den beide sogar bei einem Ausflug in den Urwald mitschleppen. So weit, so gut. Wenn dann im Abspann allerdings speziell Venezuelas Präsident Nicolás Maduro für die Beschwernisse durch die Stromausfälle gedankt wird, fragt man sich, was solche Plattitüden in einem linken Film zu suchen haben. Da wäre ein Hinweis viel sinnvoller, dass Stromausfälle zum Alltag der Mehrheit der Menschen im globalen Süden gehören. Zudem wäre zu fragen, ob nicht auch Anschläge von Regierungsgegner*innen auf Strommasten für die Blackouts in Venezuela verantwortlich sind.
Die gesellschaftliche Situation in Venezuela wird im Film mehrmals kurz angerissen. Man erfährt, dass Walter Leiter eines landwirtschaftlichen Projekts in einer bolivarianischen Kooperative war. Er schwärmt von der Zeit, als Präsident Hugo Chávez noch die Unterstützung der Massen im Land hatte, die das heutige Staatsoberhaupt - auch wegen eigener Fehler - nicht mehr hat. Man erfährt einiges über Agrarprojekte, die das 2013 verstorbene Staatsoberhaupt initiiert hatte und die bald wieder abgebrochen wurden. Und man vernimmt die Enttäuschung über die aktuelle Entwicklung auch unter einstigen Chávez-Anhängern.
»Wir wollten nicht ins Gefängnis. Daher war die Flucht für uns die einzige Option«, begründen die drei aus Deutschland emigrierten Männer. Walter schildert die große Solidarität, die sie bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft in ihrem Zufluchtsland erfuhren, wo sie sich an eine völlig andere, ihnen fremde Umgebung gewöhnen mussten. Details über deren Fluchtroute werden zum Schutz für alle Beteiligten nicht genannt.
Swobodniks Film könnte oder besser: sollte eine Debatte darüber anregen, ob nach 25 Jahren der Strafanspruch der deutschen Justiz nicht erloschen sein müsste. Die Dokumentation jedenfalls endet mit dem Song »Ich hab noch einen Koffer in Berlin«. Ein eindeutiger Hinweis, dass die drei Männer zurückkehren würden, wenn ihnen keine Haftstrafe mehr droht.
»Gegen den Strom - Abgetaucht in Venezuela«, Regie: Sobo Swobodnik, 84 Min., Kinotermine unter: www.partisan-filmverleih.de
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