»Wir wollen standhaft bleiben«

Prozess gegen den Attentäter von Halle: Mitarbeiter des attackierten Imbisslokals als Zeugen vernommen

  • Max Zeising, Magdeburg
  • Lesedauer: 3 Min.

Rifat Tekin war vor Ort, als es passierte. Der 32-Jährige arbeitet im »Kiez-Döner« in Halle, den Stephan B. am 9. Oktober 2019 stürmte. Der Angreifer erschoss dort den 20-Jährigen Kevin S.; zuvor hatte er versucht, in der Synagoge von Halle ein Blutbad anzurichten. Am Dienstag war Tekin im Prozess gegen den Angeklagten als Zeuge geladen.

Er schilderte den Tatvorgang, sprach ruhig und bedacht. »Ich habe den Angreifer kommen sehen und dachte, das könnte ein Soldat sein«, sagte er. Dann schoss Stephan B. auf den Laden, drang hinein. Er habe sich geduckt, sagte Tekin. Dann habe er Schreie gehört: »Bitte nicht, bitte nicht!« Das war Kevin S., der kurz darauf von Stephan B. erschossen wurde. Tekin sei umgehend aus dem Laden geflohen, über die Straße, in ein gegenüberliegendes Restaurant. Dort habe er dann seine Familie verständigt und weitere Schüsse gehört, den Schusswechsel zwischen Stephan B. und der Polizei auf der Ludwig-Wucherer-Straße verfolgt.

Tekin berichtete von psychischen Problemen, die ihn bis heute begleiten. Dennoch arbeite er weiter im Laden, unterstütze seinen Bruder Ismet, der den Döner-Imbiss nicht aufgeben wolle. Welche Pläne er für die Zukunft habe, wollte Richterin Ursula Mertens noch wissen. Tekin sagte: »Die Zukunft kann man nicht vorhersehen. Wir wollen standhaft bleiben, wir wollen hier bleiben. Wir wollen uns für dieses Land einsetzen.« Als Tekin den Zeugenstand verließ, applaudierten die Zuschauer. Richterin Mertens ließ den Applaus gewähren.

Stephan B. verfolgte das Geschehen vor Gericht wie fast immer mit stoischer Miene. Auch, als Rifats Bruder Ismet Tekin sich später direkt an den Angeklagten wandte: »Er ist ein Feigling«, sagte er mit lauter, drängender Stimme. Und wurde ganz deutlich: »Wir sind alle Ausländer auf diesem Planeten. Man lebt, wo man sich wohlfühlt, wo man sich sicher fühlt.« Und an die Sicherheitsbehörden gerichtet: »Ich frage mich, wieso solche Vorfälle immer wieder geschehen und nicht verhindert werden. Ich bin mir absolut sicher, dass der deutsche Staat diese Dinge lösen kann.«

Der Verteidiger von Stephan B., Hans-Dieter Weber, bemängelte daraufhin, die Aussagen Tekins hätten nichts mit dem Verfahren zu tun. Der Anwalt Tekins erwiderte: »Wir haben uns hier mehrfach den antisemitischen Quatsch von Stephan B. anhören müssen.« Wieder Applaus, aber auch eine laute, unverständliche Wortmeldung.

Es war insgesamt ein sehr emotionaler Tag im Landgericht Magdeburg. Zuerst hatte der Vater des im Döner-Imbiss getöteten Kevin S. ausgesagt. Mehrmals habe er versucht, seinen Sohn telefonisch zu erreichen. Später habe er dann das Video des Attentäters gesehen; in diesem Moment erreichte ihn die traurige Gewissheit. Kevin S. sei stolz auf seine neue Arbeit als Maler gewesen, voller Hoffnung auf eine frohe Zukunft. Außerdem habe ihm der Fußball viel bedeutet. Kevin S. war leidenschaftlicher Fan des Halleschen FC. Der Vater weinte, Richterin Mertens unterbrach die Sitzung daraufhin für 15 Minuten.

Später trat Ezra Waxman, der sich zur Tatzeit in der Synagoge befand, in den Zeugenstand. Der Wissenschaftler berichtete von den schrecklichen Momenten der Ungewissheit, als sich Stephan B. vor der Synagoge befand und die 40-jährige Jana L. erschoss. Berührender Moment zum Abschluss: Waxman sang im Gerichtssaal in jiddischer Sprache.

Und es gehört auch zu diesen berührenden Momenten, dass nun ausgerechnet die Jüdische Studierendenunion (JSUD) dem wirtschaftlich angeschlagenen Döner-Imbiss finanziell unter die Arme greift. Denn seit dem Anschlag vom 9. Oktober läuft es im »Kiez-Döner« nicht mehr, die Gäste bleiben aus. Die JSUD hat deshalb eine Spendenaktion ins Leben gerufen - mit Erfolg: 6706 Euro (Stand: Dienstagmittag) sind bislang zusammengekommen und damit ein Großteil des anvisierten Ziels von 7000 Euro.

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