Zucker in die Wunden

Das fläzige Eckensteher-Gemüt: Der Schauspieler Michael Gwisdek ist tot

  • hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn er nach oben sah, suchte er keinen Gott. Dieser Mann schien nur nach oben zu blicken, um zu prüfen: Brennen die Scheinwerfer? In meine Richtung? Michael Gwisdek genoss auf unverwechselbare Art die Grausamkeit seines Berufes: Scheinwerfer zerfetzen täglich Schauspielers Haut, er bietet sie lustvoll feil, und das Publikum klebt kein Pflaster darüber.

Er war Komödiant, und er war es faszinierend maßlos; der Körper mitunter ein einziger Dreh ins freche Blöde - das dem von Ernsthaftigkeit besetzten Publikum einen Arsch zudreht und sich nicht zu fein ist, dafür das Gesicht zu nehmen. Geh mit Cowboyhut in die Kirche, mit Basecap zum Opernball! Michael Gwisdek konnte, wenn er spielte, die Selbstbezüglichkeit derart überdrehen, dass sie ganz kindlich wirkte.

Er war der herrlich Schnöselnde, der saloppe Schnodderer. Der Träumer, der gern auch Schäumer ist. In Seelenwunden streute er kein Salz - lieber Zucker. Als der 1942 als Sohn eines Gastronomen Geborene nach zwei Fehlstarts doch noch an die Berliner Schauspielschule kam, war es nicht wegen Brecht oder so, sondern wegen der Liebe zum Wildwestfilm. Nicht wegen des V-Effekts, sondern wegen des Pfau-Effekts. Er sah noch vor jedem Abgrund eine Rampe - um zu tänzeln. Wo es blitzte, sah er furchtlos eine Chance, ins Licht zu treten, und vorm Donner - so riet dieses Gauklerleben - sollte man nicht zu früh die Ohren verschließen: Es könnte herzlicher Applaus sein.

In Karl-Marx-Stadt, der legendären Talentschmiede des Intendanten Gerhard Meyer, hat er Theater gespielt. Gab sich auffällig, gierig, extrovertiert. Bei einem Gastspiel in Berlin ging er in die Garderoben der Kollegen. »Ich bat schon vorher um Entschuldigung, denn mich dränge es zu einem Engagement in Berlin, und da müsse ich heute in gewisser Weise aus der Rolle fallen. Um aufzufallen.«

Er fiel auf, ging antragstellend zu Benno Besson. War ab 1973 fast zwanzig Jahre an der Volksbühne und am Deutschen Theater. Er hat zu DEFA-Zeiten bei Reisch und Simon, bei Carow und Beyer, bei Warneke und Seemann gedreht. Später bei Becker (»Good-bye Lenin«) und Haußmann (»Herr Lehmann«). In über hundert Filmen: die charmante Scheu, das versonnen Geheimnisvolle, das beherzt Ruppige. Im mutigen DEFA-Film »Dein unbekannter Bruder« (1982) von Ulrich Weiß spielte er psychologisch ausgefeilt einen Kommunisten, der zum Nazi-Spitzel wird. Ein Film abseits abgeschabter antifaschistischer Klischees, mit einem Exportverbot belegt, zeitweise aus den Kinos verbannt. Geschichte nicht als Lehre, was wir tun sollen, sondern als Lektion darüber, womit wir immer rechnen müssen. In Roland Gräfs »Der Tangospieler« (1991) war er der DDR-typische, also eher zufällige Abtrünnige, der ins Dissidentische gerät - und dessen Leid doch sein Lebensglück wird: geheilt zu sein vom Krebs der ideologischen Verblendung.

Bei »Treffen in Travers« (1988) führte Gwisdek selbst Regie. Ein Film mit Corinna Harfouch, Susanne Bormann und Hermann Beyer - mit diesem Streifen fuhr die DEFA nach 15 Jahren Abstinenz wieder nach Cannes. Ein Film über Georg Forster. Liebe im Schatten großer Geschichte; und die Menschen schauen traurig, als habe ihnen Gott all jene Wunder, die durch voraussetzungslose Nähe entstehen, verboten.

Sein Spiel in Film und Fernsehen hatte oft etwas Gratiskühnes, das unbekümmert an der Oberfläche rumstromerte, gern auch in Serie ging - aber stets brillierte. Das fläzige Eckensteher-Gemüt. Mit all den Ruinenspuren und einer großspurigen Mauligkeit. Gwisdek, der Berliner. 1999 lief auf der Berlinale Andreas Dresens Episodenfilm »Nachtgestalten«, der Silberne Bär für den besten Darsteller ging an Gwisdek. Er spielt darin den Geschäftsmann Peschke, der jemanden vom Flughafen abholen soll. Stattdessen wird er einem orientierungslosen afrikanischen Jungen, der allein in Tegel ankam, zum unfreiwilligen Beschützer. Gwisdek spielt das wunderbar trocken, unwirsch, bitterwitzig: Da möchte ein Mensch funktionieren, will sozusagen abschieben, ganz im Sinne der hierarchischen Übereinkünfte, aber letztlich kommt er nicht an gegen sein Mitgefühl. Anrührend, wie das Menschliche übers Unbewusste läuft; das Herz steht dem kalten Bewusstsein ständig - und siegreich! - im Weg.

Der Schauspieler war Träger des Ernst-Lubitsch-Preises der Berliner Filmkritik. Er mochte diesen eher kleinen Preis. Die Werke des 1947 in Hollywood verstorbenen Regisseurs waren jenes große Programm, das auch Gwisdek träumte: Ironie und Pathos, Komik und Melancholie in Paarschaft. Der »Lubitsch Touch« entspringt der Theorie, dass sich jeder von uns wenigstens zweimal täglich lächerlich macht. Gwisdeks Gestalten schlugen diese Theorie oft um Längen. Eine Katastrophe. Mitunter zum Weinen. Also ein grandioser Witz. Nun ist Michael Gwisdek mit 78 Jahren in Berlin gestorben.

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