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  • Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main

Die Ungleichheit bleibt

Der Belgier Peter Mertens über die globale Pandemie

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

Er ist nicht nur Publizist und Sozialwissenschaftler, sondern zugleich Vorsitzender der Partei der Arbeit von Belgien: Peter Mertens. Der Antwerpener erzählt von der Pandemie. Sein Text wird persönlich, wenn er über den Krebstod seines Schwiegervaters mitten im Lockdown schreibt. Dabei scheint auf, dass es vor allem die Einsamkeit ist, die fehlende Möglichkeit, sich zu verabschieden, die schmerzt.

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Peter Mertens: Uns haben sie vergessen. Die werktätige Klasse, die Pflege und die Krise, die kommt.
Verlag am Park, 154 S., br., 14 €.

Mertens hat jedoch auch einen guten Zugang zu vielen anderen Perspektiven, darunter jenen der »essenziell« Tätigen, die zu Beginn der Pandemie für ihr Durchhalten noch Beifall erhielten, aber bis heute keine höheren Löhne bekommen. Er macht dabei nicht an Landesgrenzen halt - in seinem Bericht kommen Arbeitende aus den USA, aus Italien und vielen anderen Ländern zu Wort. Und nicht nur jene, die in Krankenhäusern oder in der Pflege schuften, sondern auch in Fabriken. Als Beispiel aus Deutschland werden die Zustände bei Tönnies angeführt. Angesprochen wird auch die Ausbeutung migrantischer Beschäftigter in der Landwirtschaft in ganz Europa.

Elegant dann ein Schwenk zu einem Text von Friedrich Engels von 1845: »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«. Der Zusammenhang von Krankheit und materieller Entbehrung, Wohn- und Arbeitsumständen ist nicht neu, der Vergleich der Arbeiterbezirke im Manchester des 19. Jahrhunderts mit heutiger Unterbringung osteuropäischer Erntearbeiterinnen und Schlachter liegt nahe.

Der Bericht über die Branchen mit prekärer Arbeit ist bei Mertens häufig, deutlich häufiger als in Deutschland, mit der Erzählung von den Kämpfen an ebenjenen Orten verbunden. Die »weiße Wut« ist nicht nur in den Krankenhäusern Belgiens zum Ausbruch gekommen, sondern auch in Frankreich und Deutschland. Manchmal wird die Darstellung pathetisch, aber Mertens hält genug Fakten parat, um den Text wieder zu erden. Der Autor nutzt den Umstand, dass die Pandemie und die Maßnahmen dagegen Schlaglichter auf vorhandene Widersprüche werfen, auf das Missverhältnis von Geldern für die Pharmaindustrie zur Impfstoffentwicklung und für die Altenfürsorge. Auch belgische Pflegeheime sind vernachlässigt worden, weshalb dort in drei Monaten 5000 Menschen an den Folgen von Covid-19 starben. Verantwortlich dafür waren Sparmaßnahmen bei den Ausgaben für Ernährung und Pflegekosten (bis hin zu Windeln). Dagegen waren trotz Coronakrise sichere Gewinne aus Pflege-Immobilien zu erzielen.

Trotz des Nicht-Einverstandenseins mit der Inkongruenz von Corona-Regeln, Verzweiflung über fehlendes Schutzmaterial in besonders verletzlichen Bereichen: Mertens betreibt keine Politikerbeschimpfung. Wenn es um den politischen Gegner geht, wird dessen Agieren auf der belgischen Bühne präzise dargestellt und konkret nachgefragt. Geradezu eine Wohltat, verglichen mit manchem hierzulande üblichen Geschwurbel.

Da jedes Buch einmal gedruckt werden muss, endet auch das Buch von Mertens - und zwar am 31. Juli 2020. Über Belgien hinaus kann die Lektüre den Blick global schärfen: auf »die Krise, die kommt«. So titelt Mertens den dritten und umfangreichsten Teil seines kleinen Buches. Hier wird das ABC marxistischer Gesellschaftskritik auf die Welt von heute angewandt: Krise heißt immer auch Kapitalkonzentration. Die Fronten in der Europäischen Union verlaufen zwischen Arm und Reich.

»Wir waren nicht gleich, bevor die Pandemie ausbrach, und während der Pandemie sind wir es genauso wenig.« Dieses Fazit könnte für Peter Mertens gut lesbares Buch stehen.

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