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  • Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main

Mitten im Wald

So einsam, so lebendig: Wolfgang Büschers »Heimkehr«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Ist der Mensch den unmittelbaren Wirkungen seiner Kindheit weit genug entrückt, sucht er in wachsender Wehmut die Wege zurück. Verlangt just in den Nach-Bildern eines längst verwitterten Ursprungs nach der Steigerung seines gegenwärtigen Empfindens. »Suchbild« nannte Christoph Meckel sein Erinnern, »Herkunft« betitelte Botho Strauß seinen Rückblick - und »Heimkehr« heißt das jüngste Buch von Wolfgang Büscher.

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Wolfgang Büscher: Heimkehr.
Rowohlt Berlin. 204 S., geb., 22 €.

Familiäre Erkundungen, auffällig durch Feinheit. Aufruf der Wurzeln, ganz mit der Lust des Romantikers Fichte: Es geht darum, dass ein Ich sich in der Reflexion noch einmal selbst hervorbringt. Wer über sich nachdenkt, ist tätig im Weitergehen. Das Ich wird auf neue Weise zum Ereignis. Ein Ort dafür? Die Natur. Büschers Leben - bereit für Anverwandlung inmitten eines Waldes: »... mit sanfter Gewalt drückte es mich in seinen Zyklus hinein.«

Der wahrnehmungs- und sprachkräftige Reporter ist seit Jahren ein inständiger Geher - nun geht er ins deutsche Dickicht. Lebt ein Dreivierteljahr in einer Hütte im westfälisch-hessischen Grenzland. Dort inmitten der Nadelgehölze, wo er als Junge mit Freunden Baumhäuser baute - die der Förster regelmäßig niederriss; und so »standen wir um das Grab unseres Traums herum«. Der nunmehrige, monatelange Gang in die Einsamkeit wiederbelebt einen Hüttenzauber, der damals nie wirklich ausgelebt werden durfte. Erwachsenwerden? »Nun ergraute das Licht, und die Welt wurde um Grade kälter.«

Die Hütte, Besitz eines Erbprinzen, wird zu einer Erfahrungsstätte weitab - in die aber immer wieder Wirklichkeit einbricht. Jagdrituale und großmaschinelle Ausforstung. Das Werk der Waldarbeiter, die Plage der Käfer. Der Tod der Mutter, die letzten Wege ins Elternhaus. Dort steht der Schreibtisch, in dessen Schublade liegen die alten Aufsätze des Schülers; einer der Texte huldigte dem geliebten Dalai Lama, dem »tibetischen Winnetou«. In der Erinnerung schreibt Büscher über sich in dritter Person: im Dalai Lama kulminierte einst »das leicht Entzündliche« des Jungen für Mut zum Widerstand.

Eines Tages, bei der Klassenfahrt in beide Berlins, betritt Büscher die chinesische Botschaft in Karlshorst, bekundet sein Interesse an der Kulturrevolution, und heraus kommt er mit »einer rotchinesischen Baumwolltasche voll Propaganda«. Der Autor denkt draußen wieder an den Dalai Lama und spricht von einem ersten »kleinen Verrat«.

Das Leben als Einsiedler auf Zeit schließt sich kurz mit der literarischen Romantik. Sie hat den Wald mit einer poetischen Strahlkraft ausgestattet wie keine andere Literaturepoche vorher oder später. Eine Gegenwelt zur heraufziehenden Moderne. Das kathedrale Raumerlebnis in Grün und Düsternis. Der Wald: Göttliches, Gefahr - und Grenze. Sie verwandelt jeden, der ihn betritt. »Der Wald als Lebenshort in überwirklicher Fülle erschließt sich, wenn die Überschreitung der Linie gelungen ist«, schrieb Ernst Jünger.

Das Sinnieren unter lichtschmutzfreien Himmeln, das Besinnungsstaunen über den Reichtum in der Bescheidung, diese wunderbare Kopffreiheit für Diesseits und Jenseits, Körper und Seele, Mensch und Menschheit. Der Wald ist auf den ersten Blick ein Überfluss an schöner Weltfremdheit, in unausgesprochener Gegenwehr zur hegelianischen Vernunftspedanterie, aber für Büscher ist der einsame Ort doch auch ein nimmermüdes Labor der Berührungen. Was mit dem regen Alltagsleben des Försters, mit der Geschichte des naheliegenden Fürstenhauses, mit dem Sterben der Mutter und dem Abschied vom eigenen Kindheitsort hereindrängt, ist Geschichte des 20. Jahrhunderts, ist Spannung zwischen dem Romantischen und dem Politischen, zwischen dem Vorstellbaren und dem Lebbaren: »Etwas Altes war um die Höhen mit ihren knorzigen Namen, in denen ein Kult nachhallte, ein kurioses oder ein grausiges Ereignis.«

Erster Weltkrieg und Nazizeit, Schützenfest und patriotischer Prunk der nahen Residenzstadt - Büscher nimmt Umgebung und Spuren der Zeitläufte auf, er erlebt den Wald als natürliche Abwehr gegen Denksysteme und Ordnungsmethoden. Es geschehen ihm Zugriffe auf vergangene Zusammenhänge, um der gegenwärtigen Existenz einen Impuls zurückzugeben: jenes große leitende Gefühl, das einem Handeln vorausgehen kann.

Wenn ich gute Reportagen aus unwirtlichen Gegenden lese, also aus aufgewühlten Seelensteinbrüchen, und wenn ich dann von den Buchseiten aufschaue und mich in der Realität umschaue, dann sehe ich wahrlich kein Abenteuer mehr, sondern ringsum Menschen im erschütternden Gleichmaß, und ich gehöre zu ihnen. Sich nur festgezurrt zu erleben, das macht Leute nervös, arbeitsam, rücksichtslos und bitter. Als habe man einen Körper, aber kein Organ für wahre Existenz. Man lebt zwar, aber man kann es nicht wirklich. Wir wissen genau, was Tod ist: schon mit fünfzig so leben, wie man mit achtzig dann auch sterben wird. Ach, Bürger, träum so verwegen, wie du willst: Vorm Bett, wenn du morgens Auferstehung im Trott betreibst, stehen nur biedere Hausschuhe. Das Elend redet keiner klein.

Gegen solch trübes Empfinden ist dieses Buch geschrieben. So tröstend wie traurig. Poetisch, feinfühlig, genau - hart nur in der sanften Unerbittlichkeit, mit der dieser berührte und berührende Beobachter Büscher das Wesentliche aufruft: Auch inmitten der (doch sehr belebten!) Abgeschiedenheit geht es um die Leidenschaft, an der Welt möglichst stiftend beteiligt zu bleiben.

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