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  • »Die Stadt ohne Juden«

Gescheiterte Aufklärung

Der lang verschollene Stummfilm »Die Stadt ohne Juden« zeigt den Antisemitismus der 20er Jahre - und das Versagen im Kampf dagegen.

  • Radek Krolczyk
  • Lesedauer: 5 Min.

Der österreichische Stummfilm »Die Stadt ohne Juden« kam 1924 in die Kinos. Der Titel verweist, von heute aus gesehen, auf einen späteren historischen Zeitpunkt, auf die Deportation und die Ermordung der europäischen Juden durch die Deutschen und ihre Verbündeten.

Tatsächlich war die politische Situation bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg vergiftet und brutal. Der Wiener Regisseur Hans Karl Breslauer verfilmte mit »Die Stadt ohne Juden« ein Buch gleichen Titels des Schriftstellers Hugo Bettauer, der in dem Jahr nach dem Filmstart nach Anfeindungen der rechten Presse aus dem Umfeld der österreichischen NSDAP in Wien angeschossen wurde und verstarb. Sein Mörder wurde von einem Geschworenengericht wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und kam bereits zwei Jahre später frei. Der Regisseur Breslauer trat 1940 in die NSDAP ein. Doch sollte man den Versuch wagen, den Film nach seinen eigenen Regeln zu betrachten. Teleologie versperrt den Blick auf die Eigenart des Moments - der Voraussetzung für das spätere Menschheitsverbrechen ist.

Breslauers Film steht am Ende einer Phase des expressionistischen Kinos, das von übermächtigen Strukturen und machtlosen Figuren handelt. Der filmische Raum, das Dekor und die Kamera sind alles, die Menschen hingegen sind nichts, der Gang ist krumm, weil die Straßen krumm sind. Das gilt für die überbordenden Häuser von »Das Cabinet des Dr. Caligari« (1920) ebenso wie für die Mauer, die »Der müde Tod« (1921) um sein Reich errichtet, oder den modernen Hotelbau, in dem der alte Portier als »Der letzte Mann« (1924) allen Halt verliert. Die Szenenbilder der »Stadt ohne Juden« zeigen zwar im Hintergrund meist eine perspektivische Flucht, die Entscheidungsfreiheit suggeriert, die Figuren erstarren aber ob aller äußerer Anforderungen im Vordergrund zu Salzsäulen. Als Motor der Handlung und Verweis auf die reale Welt dienen dokumentarisch anmutende Massenszenen. Sie zeigen die aufständischen Menschenmengen sowie die Juden bei der erzwungenen Ausreise. Aber doch wirken diese Szenen vollkommen automatisch und bewusstlos.

»Die Stadt ohne Juden« spielt in einer Art Stadtstaat mit dem Namen Utopia, einem Land, das an den Gemeindemauern zu enden scheint - einem sehr schönen Sinnbild für das damalige und heutige Österreich. Es gibt einen Kanzler, der diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zum Ausland unterhält. Mit der Eisenbahn kommt man an einen Ort namens Zion. Dorthin werden, gemäß eines Ratsbeschlusses, sämtliche Juden aus dem Stadtstaat verbannt. Wie es in Zion aussieht, erfahren wir nicht, und auch nicht, wie es den Vertriebenen dort ergeht. Die Perspektive des Films ist eindeutig nichtjüdisch. Weit weg in Amerika wohnt ein reicher Antisemit, der dem Kanzler einen hohen Kredit gewährt - unter der Bedingung, dass er die Juden verbannt. Das Kreditangebot kommt zur rechten Zeit, denn die wirtschaftliche Krise greift um sich und das Volk rebelliert auf den Straßen.

Den Kanzler treibt die Angst. Seine Rede an den Rat beginnt philosemitisch und endet antisemitisch. Selten sieht man so trefflich die Zusammengehörigkeit dieser beiden Pole. Der Kanzler lobt die Juden für ihre wirtschaftliche Macht und begründet damit ihren Ausschluss: Ihre rassische Überlegenheit mache sie zu einer Gefahr. Die wirtschaftliche Krise und das Elend der Menschen haben ihren Grund in den Verhältnissen, die über ihren Köpfen und hinter ihren Rücken verlaufen, wie Theodor W. Adorno einmal schrieb. Es ist zwar falsch, aber auch naheliegend, nach den Ursachen in seinem direkten Sichtfeld zu suchen. Ebenso falsch ist es, die Menschen dabei als vollkommen handlungsunfähig zu begreifen. Niemandem sind in »Die Stadt ohne Juden« letztendlich die Hände so sehr gebunden wie dem antisemitischen Rat Bernard. An ihm wird der Antisemitismus als Psychose vorgeführt. Wie der Somnambulist Cesare im »Cabinet des Dr. Caligari« landet er in einer schiefen, bemalten Zelle, in der es passend zu seinem Wahn von Davidsternen nur so wimmelt.

Eine der Grundkonstanten des Antisemitismus ist es, Juden als Händler oder Banker mit dem Kapitalismus zu identifizieren, der bekanntlich keine eigene Erscheinungsweise hat. Dass ein Großteil gerade der osteuropäischen Juden im frühen 20. Jahrhundert ebenso verarmt war wie viele Nichtjuden, wurde (und wird) geflissentlich übersehen. Der politisch-ökonomische Prozess läuft auch ohne jüdische Händler und Banker in seiner Krisenhaftigkeit wie auch in seinem entfremdenden Normalvollzug weiter.

Der Kapitalismus ist gleichgültig gegenüber den Schicksalen der Einzelnen. Antisemiten können sich dies nur schwer vorstellen. Sie nehmen nicht nur ihre eigene ökonomische Ohnmacht persönlich, sondern auch die ökonomische Macht der Anderen. Dies zeigt sich auf unverstandene Weise auch in »Die Stadt ohne Juden«. Der Film verfolgt zwar eine aufklärerische Mission, bedient aber selbst rassistische Vorannahmen. Er missversteht den Antisemitismus als bloßes Vorurteil gegenüber den Juden. Verhandelt wird dann die Frage, ob die natürliche jüdische Überlegenheit den Deutschen schadet oder nutzt. Der Stadtstaat und ihre Ratsherren schließlich durchlaufen im Selbstversuch eine Läuterung - von der Falschannahme des Schädlings bis zur Gewissheit des Nützlings.

»Die Stadt ohne Juden« galt nach dem Zweiten Weltkrieg als verschollen. Ein Teil wurde im Amsterdamer Filmmuseum aufgefunden, auf einem Pariser Flohmarkt tauchten weitere, beschädigte Sequenzen auf. Das Filmarchiv Austria stellte erst vor zwei Jahren eine restaurierte Fassung vor, die nun als DVD vorliegt. Für die Neufassung des Films entwickelte Olga Neuwirth eine neue Musik für klassisches Ensemble und Elektronik. Prägend für diese Neukomposition ist, wie sie selbst in dem der DVD beiliegenden Booklet schreibt, eine Technik der Camouflage, »eine Kombination aus ironischer Distanz und klangmächtiger Wut«. Damit kommentiert die Filmkomponistin ihr Material auf politische Weise, markiert klanglich Ambivalenzen und Bigotterie. Gleichzeitig verwendet sie etwa Samples der Aufnahmen von Jodelgesängen, mit denen sie auf generelle antisemitische Affinitäten in Österreich, auch jenseits der filmischen Handlung und jenseits des Jahres 1924 verweist.

Hans Karl Breslauer: Die Stadt ohne Juden (Österreich, 1924), DVD, 87 Minuten, Musik: Olga Neuwirth (2019), absolut media, 2020

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