Wo die guten Bücher herkommen

Kenntnisreich und weltoffen durch Krisen und Wenden - 75 Jahre Henschelverlag.

  • Ralf Stabel
  • Lesedauer: 5 Min.

Er war ein vielseitig interessierter und umtriebiger Mann - der Gründer des Bühnenvertriebs Henschel & Sohn. Eigentlich Dreher und Mitglied des Metallarbeiterverbandes war er zudem Mitarbeiter und schließlich Geschäftsführer des Volksbühnenverlages, der 1933 von den Nazis liquidiert wurde. Nach der Befreiung vom Faschismus sicherte sich Bruno Henschel die vormaligen Lizenzen. Ob die Gründung seines Editionshauses am 20. Oktober 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht nur angeregt oder gar beauftragt war, ist noch nicht geklärt. Gemeinsam mit seinem Sohn Harald bringt Bruno Henschel das Unternehmen gut voran, vor allem als sie den Bühnenvertrieb um einen Zeitschriften- und Buchverlag erweitern.

1946 stößt der Schauspieler und Schriftsteller Fritz Erpenbeck hinzu. Drei Jahre älter als der 45-jährige Bruno Henschel bringt der Kommunist, der im April 1945 mit der Gruppe Ulbricht aus Moskau nach Berlin zurückgekehrt war, seine publizistischen und editorischen Erfahrungen ein und wird Chefredakteur der neuen Zeitschrift »Theater der Zeit«. Konstantin Simonows »Die Russische Frage« wird mit über 100 000 verkauften Exemplaren der erste Bestseller des Verlages, dessen Ansehen rasch wächst. Bertolt Brecht vergibt die Aufführungsrechte seines Gesamtwerkes an Henschel, Heiner Müller folgt ihm später. Beide stehen für ein Kunstverständnis, das nicht so recht in das offiziell propagierte der DDR passte, wo man lieber auf die Stanislawski-Methode setzte, benannt nach dem russischen Regisseur Konstantin S. Stanislawski, der auf ein Theater setzte, das so realistisch wie möglich sein sollte, weshalb sich die Schauspieler mit eigenen Gefühlen einbringen sollten.

Der Verlag wächst weiter als er 1952 um den Deutschen Filmverlag und den Deutschen Funkverlag zum Henschelverlag Kunst und Gesellschaft erweitert wird. Den Bühnenvertrieb übernehmen fortan Henschel- Schauspiel und Henschel-Musikbühne. Mit dieser Veränderung ist noch eine weitere verbunden: Henschel schenkt den Verlag seiner Partei. »Einzige Bedingung Bruno Henschels, der dies nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern aus Überzeugung getan hatte, war seine weitere Stellung als Verlagsleiter, verbunden mit der Nutzung eines Autos auf Verlagskosten bis an sein Lebensende«, schreibt Susanne Harder, die sich mit der Frühgeschichte des Verlags beschäftigt hat. Dass der Verlag darüber hinaus weiterhin seinen Namen tragen darf, ist in den wilden und wirren Zeiten der Formalismus-Realismus-Kontroverse in der DDR ein bemerkenswertes Zeichen. Nur sehr wenigen ausgewählten Persönlichkeiten wird es, meist in persönlicher Absprache mit Walter Ulbricht, gestattet, ihr Institut unter ihrem Namen zu führen - wie etwa die Tänzerin und Tanzpädagogin Gret Palucca oder der Physiker Manfred von Ardenne in Dresden.

Bruno Henschel leitet den Verlag bis 1967 und wird ab 1965 in schöner Regelmäßigkeit alle fünf Jahre bis zu seinem Tod 1976 mit dem Vaterländischen Verdienstorden ausgezeichnet. Sein Sohn hingegen war frühzeitig in den Westen gegangen und wird im Osten konsequent verschwiegen. Bruno Henschel übergab nach 22 Jahren die Leitung an den Kunsthistoriker Kuno Mittelstädt, der seit 1959 in seinem Verlag publiziert und bereits die Leitung des Lektorats Bildende Kunst innehatte. Renate Seydel, ebenfalls erfolgreiche Autorin des Verlages und Mittelstädts Frau, erinnert sich noch heute sehr genau an diese Übergabe. Bruno Henschel habe sich seinen Nachfolger ganz bewusst ausgesucht, wollte den Stab an eine neue Verlegergeneration weitergeben, die Unternehmensphilosophie weitertragen: Kunst für alle und nicht nur für eine Elite. »Die Übergabe lag ihm wirklich am Herzen und war sehr einvernehmlich«, betont Renate Seydel.

Auch unter der neuen Leitung behält der Henschel-Verlag seine besondere Stellung bei. Sei es, weil er in SED-Besitz ist, sei es, weil die DDR mit der Machtübernahme durch Erich Honecker um internationale Ankerkennung ringt. Im Henschelverlag treffen Ost und West auf selbstverständliche Art um der Kunst Willen zusammen. Vergleichbar vielleicht mit der Komischen Oper unter Walter Felsenstein. Wer Rang und Namen hat in Musiktheater und Schauspieldramatik, wer Profundes zu veröffentlichen hat in den Bereichen Bildende Kunst und Tanz, ist in der Oranienburger Straße in Berlin, wo der Verlag seit 1947 residiert, an der richtigen Adresse.

Das Haus selbst ist historisch bedeutsam, hier hatte Alexander von Humboldt bis zu seinem Lebensende gewohnt. Täglich gingen die Verlagsmitarbeiter an der Gedenktafel vorbei, auf der sie die dem Forscher zugeschriebene Mahnung lasen: »Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.« Was auf viele Entscheidungsträger in der DDR zutraf, jedoch weniger auf die Mitarbeiter dieses Hauses. Sie kommunizierten mit der Welt, suchten stets Kontakt zu neuen Autoren und Autorinnen. An die offene Atmosphäre im Verlag während der 80er Jahre denkt Volkmar Draeger, damals Mitarbeiter bei »Theater der Zeit« und Redakteur der Zeitschrift »Unterhaltungskunst«, noch heute mit Begeisterung: »An den Henschelverlag erinnere ich mich als eine Oase der Liberalität in einer ansonsten reglementierten Zeit, einen Ort ohne ideologische Einengung. Wir ›Henschelianer‹ waren uns dieses Privilegs durchaus bewusst und empfanden uns als Familie. Abgesehen von einer moderaten und pfiffigen Selbstzensur hatten wir diese menschliche Atmosphäre den beiden markanten Führungsfiguren zu verdanken: Verlagsleiter Kuno Mittelstädt, kompetent, leise, unaufdringlich, und Cheflektor Horst Wandrey, Grandseigneur mit wehendem Grauhaar, imposanter Bildung und Zuhörfähigkeit.«

Henschel stand mit seinem breiten Angebot von Zeitschriften über Fachliteratur bis hin zu Kunstbänden für einen klassischen Verlag. Entsprechend groß sei, so Volkmar Draeger, auch dessen internationales Renommee gewesen - bis heute. Die Reihe »Welt der Kunst« gehörte zu Exportschlagern. In den 1980er Jahren ging ein Viertel der Verlagsproduktion ins Ausland und brachte so dringend benötigte Devisen in die DDR, wie Franziska Galek, profunde Kennerin der Verlagsgeschichte, berichtet.

1989 ereilt den Verlag die »Wende«. Die Mitarbeiter retten ihn durch Eigeninitiative. Doch dann folgen Treuhandkontrolle, Konkurs, Insolvenz, wechselnde Besitzer - und sogar der Verkauf für einen symbolischen Euro. Es kommt zu verschiedenen Fusionen und Verkleinerungen. Der Schauspielvertrieb gründet sich unter Wolfgang Schuch als eigene GmbH. Doch im Gegensatz zu vielen anderen »Unternehmen« aus der DDR-Zeit überlebt der Verlag.

Seemann-Henschel residiert heute im Leipziger Musikviertel. Verlagsleiterin Annika Bach weiß um den Schatz, den sie hütet: »Bereits seit 75 Jahren ermöglicht und befördert der Henschelverlag mit seinen Büchern kenntnisreiche und anregende Diskussionen über die Künste.« Für die Zukunft des Verlages wünscht sie sich, ganz sicher wie viele mit ihr, »dass diese Diskussionen auch weiterhin mit viel Verve, klugen Argumenten und - natürlich - guten Büchern geführt werden«.

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