Laute Stimmen aus der Provinz

Mit ihrem Buch »Land der Frauen« hat Landtierärztin María Sánchez eine wichtige Debatte in Spanien angestoßen: Es wird verstärkt über einen ruralen Feminismus gesprochen.

  • Isabella Caldart
  • Lesedauer: 7 Min.

Dass es den einen Feminismus nicht gibt, ist spätestens nach der Lektüre von María Sánchez’ Buch »Tierra de Mujeres« - in der deutschen Übersetzung wird es als »Land der Frauen« am 8. Oktober 2021 im Blessing Verlag erscheinen - klar. »Ich denke, vom Feminismus sollte man im Plural sprechen«, sagt die Autorin dazu. Denn die Kämpfe, denen sich Feminist*innen auf dem Land stellen müssen, sähen anders aus als in einem urbanen Kontext. Eine Meinung, die inzwischen viele teilen. Ihr Buch, das vor anderthalb Jahren in Spanien veröffentlicht wurde, hat landesweit Diskussionen angestoßen.

Recht unbehelligt von diesem Ruhm lebt die 1989 geborene Autorin noch immer in Andalusien und widmet sich ihrem regulären Job. Die Landtierärztin arbeitet in einem Artenschutzprogramm für vom Aussterben bedrohte einheimische Tierarten. Ihre freie Zeit nutzt sie, um zu schreiben. Nach einem 2017 veröffentlichten Lyrikband und »Tierra de Mujeres« erschien kürzlich ein illustriertes Glossar, in dem sie Begriffe aus dem ländlichen Bereich sammelt, die Gefahr laufen, vergessen zu werden, oder bereits in Vergessenheit geraten sind.

Und was unterscheidet nun den ruralen Feminismus vom urbanen? »Die Umstände, Dynamiken und Communitys sind anders«, erläutert Sánchez. »Es ist nicht das Gleiche, am Weltfrauentag auf eine Demonstration in einer großen Stadt zu gehen, in der 500 000 Menschen wohnen, wie in einem kleinen Dorf. Ein Beispiel: Wenn dir dein Vater das nicht erlaubt und du in einem Tausend-Einwohner-Dorf lebst, dann gehst du nicht hin. In einer Stadt hingegen kannst du so tun, als wolltest du mit einer Freundin in die Bibliothek oder ins Kino - und musst echt Pech haben, um beim Demonstrieren deinen Vater zufällig auf der Straße zu treffen.«

Unsichtbare Frauen

Mit dem Demonstrieren und dem Einstehen für Frauenrechte kennt sich Sánchez inzwischen sehr gut aus. Ihr feministisches Bewusstsein erwachte vor einigen Jahren in gleich mehrfacher Hinsicht. Zum einen fand sie ihre Wahrnehmung des Alltags auf dem Land nicht in den offiziellen Zahlen wieder. Einer Erhebung des nationalen Statistikinstituts zufolge arbeiten im ländlichen Raum nur 2,2 Prozent der Frauen im Bereich der Viehzucht, Forstwirtschaft und Fischerei, wie Sánchez in »Tierra de Mujeres« zitiert. »Die Statistik korrespondiert nicht mit der Realität, die ich tagtäglich erlebe«, sagt sie. Es werde als normal angesehen, dass Frauen nicht nur den Haushalt schmeißen und sich um die Kinder kümmern, sondern auch auf dem Hof arbeiten. »Gleich, ob beim Melken der Ziegen, der Geburt, Fütterung oder dem Saubermachen, immer, wenn es darum geht, irgendwo zu helfen, sind die Frauen zur Stelle. Aber diese Arbeit ist unsichtbar, weil sie nicht in den Daten der Verwaltung auftaucht.«

Zum anderen realisierte die Autorin mit der Zeit, dass sie sich, was ihre eigenen Vorbilder betraf, nur an Männer hielt - sowohl bezüglich der Schriftsteller, die sie las, als auch innerhalb ihrer Familie: Schon ihr Großvater und ihr Vater arbeiteten als Landtierärzte. Deswegen bezeichnet sie sich als »die erste Tochter«. »Ich bin die erste Frau in meiner Familie, die ihre Geschichte erzählt. Meine Mutter und Großmutter glaubten wie so viele Frauen, ihre Geschichten wären nicht interessant. Mit dieser Dynamik habe ich gebrochen.« In »Tierra de Mujeres« bezieht sie sich ausdrücklich auf die Generationen an Frauen, die vor ihr da waren. »Ich habe nach Bezugspersonen gesucht, Autorinnen, Lyrikerinnen, Tierärztinnen. Irgendwann kam der Moment, in dem ich mich fragte: Was ist eigentlich mit meiner Mutter und meiner Großmutter? Welche Päckchen hatten sie zu tragen? Und wieso wollte ich, als ich jünger war, immer so werden wie mein Vater?«

Das Schweigen überwinden und Sichtbarkeit schaffen, waren Antrieb für María Sánchez’, dem Thema Frauen auf dem Land ein ganzes Buch zu widmen. Dabei ist ihr wichtig zu betonen, dass sie als eine Art Lautsprecher für die Frauen fungierte, nicht aber ihnen »eine Stimme verlieh«: »Ich weiß, dass das ein gängiger Ausdruck ist und als etwas Positives angesehen wird, aber mich macht er wütend«, sagt sie. »Stimme und Geschichte haben wir alle. Die Frage ist, wer die Möglichkeit, das Mikrofon hat, um diese Stimmen zu verstärken. Mit meinem Buch habe ich versucht, einen Raum für Debatten zu schaffen.«

Die vielen Seiten des Landlebens

Die Stimmen der Frauen zu stärken und den urbanen Feminismus voranzutreiben, ist aber nur ein Anliegen von Sánchez’ »Mujeres de Tierra«. Ihr geht es in dem Buch auch darum, die Sicht der Städter*innen auf das Landleben zu ändern. Denn darin erkennt sie zwei Extreme: einerseits die Überheblichkeit gegenüber jenen, die in ländlichen Gebieten leben, andererseits eine Idealisierung als Idylle. »Wir befinden uns in meinen Augen am Ende einer Epoche. Viele Menschen sind unzufrieden mit dem Leben, das sie führen, und daher rührt eine gewisse Nostalgie«, sagt sie mit Blick auf die Verklärung eines vermeintlich »einfacheren Lebens« auf dem Land. »Außerdem sind wir die Generation, über die unsere Eltern sagten, wir würden Karriere machen und besser leben als sie.« Eine Vorstellung, die vor allem in Spanien die Krise von 2008 zunichtemachte.

Die Arroganz vieler Städter*innen stört María Sánchez ebenfalls. Es mag einige überraschen, aber: Sánchez hat im urbanen Raum sehr viel mehr Machismo erlebt als im ruralen. Vor allem im Literaturbetrieb wurde sie öfter belächelt, etwa wegen ihres andalusischen Akzents. Oder sie wurde verwundert gefragt, wie es komme, dass eine Landtierärztin aus Südspanien High Heels und Lippenstift trage. »Ich möchte aber niemandem eine Schuld zu schieben, das ist nicht meine Art des Diskurses«, sagt sie. Und den Menschen, die wenig über das Leben auf dem Land wissen, rät sie: »Das Wichtige ist, dass du Interesse und gute Intentionen hast. Wenn du die Leute kennenlernen willst, frag sie ohne Angst, wer sie sind, was sie essen, woher die Produkte kommen - respektvoll, ohne klassistisch oder paternalistisch zu sein. Wenn wir unsere Muster durchbrechen, kann man viel lernen.«

Aber die Autorin ist sich dessen bewusst, dass es auf dem Land viele Probleme gibt. So erwähnt sie in ihrem Buch die Recherche der beiden deutschen »BuzzFeed«-Journalistinnen Pascale Müller und Stefania Prandi, die 2018 öffentlich machten, unter welchen Bedingungen marokkanische Erntehelferinnen arbeiten müssen. Ein Beispiel unter vielen, sagt Sánchez. Dieses Meer aus Gewächshäusern in Andalusien, hauptsächlich in der Provinz Almería, bedeckt inzwischen eine Fläche von mehr als 35 000 Hektar, was nicht nur für die Natur eine Katastrophe bedeutet; dort werden zudem migrantische Arbeiter*innen ausgebeutet. Gerade wenn es um diese Ausbeutung geht, bricht Sánchez vor Frust fast die Stimme. »Sie arbeiten unter den schlimmsten Bedingungen, haben oft keine richtigen Unterkünfte oder sauberes Trinkwasser. Das ist doch inhuman!« Und nicht das einzige Problem. Sánchez weiß auch um die Folgen der Massenproduktion für das Klima. »Das kapitalistische System ist ausgerichtet auf diese Hyperproduktion«, resümiert sie frustriert und pocht auf politische Intervention.

Es gibt auch Hoffnung - so etwa die Kollektivbetriebe, die sich zusammengefunden haben, um gemeinsam stark zu sein. Ihnen haben das Internet, vor allem die sozialen Medien, dabei geholfen, sich zu vernetzen. Und Sánchez’ Buch: Auf ihren Lesungen lernen sich häufig Viehzüchterinnen und andere Frauen, die im ländlichen Raum arbeiten, kennen und unterstützen sich dann gegenseitig. »Es klingt etwas egozentrisch, das zu sagen, aber ich glaube schon, dass mein Buch einen Impuls gegeben hat. Daraus sind viele Projekte, Veröffentlichungen und Dokus entstanden«, so die Autorin. »Aber das Wichtigste für mich ist, dass sich viele Leute endlich repräsentiert fühlen.«

Coronabedingt wurde die deutsche Übersetzung von »Land der Frauen« auf den kommenden Herbst geschoben. Für María Sánchez stellte sich das als passender Zufall heraus: Von September bis November 2021 wird sie ein dreimonatiges Stipendium in der Villa Waldberta in München antreten und möchte ihre Zeit dort dann auch für Lesungen nutzen.

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